Skip to main content

Alle Kinder gerecht fördern - ungeachtet ihrer Herkunft

Die Weiterbildung SCALA der Pädagogischen Hochschule bringt Bildungsgerechtigkeit in den Fokus.

16.8.2018 | Pädagogische Hochschule

11_2_scala.jpg

Chancengerechtigkeit in der Schule: Das Projekt SCALA sensibilisiert Lehrpersonen zum Einfluss ihrer Erwartungshaltung auf die Leistung der Schulkinder. Foto: Adriana Bella (Symbolbild)

Dieter Blatt ist überzeugt, dass er gegenüber Kindern mit Migrationshintergrund keine Vorurteile hegt. Noch nie gehabt hat. Das Thema «Heterogenität» beschäftigt und begleitet den Primarlehrer aus Münsingen BE seit gut 30 Jahren, er hat dazu diverse Weiterbildungen besucht. «Trotzdem tappt man in diese Falle», sagt Dieter Blatt.
Im Schuljahr 2016/17 hat der 56-Jährige die Weiterbildung SCALA der Pädagogischen Hochschule FHNW absolviert (siehe Fachbeitrag). Drei Kurstage, verteilt auf ein halbes Jahr, ergänzt von einem individuellen Coaching im eigenen Klassenzimmer. SCALA ist auf Chancengerechtigkeit fokussiert: Lehrpersonen sollen sensibilisiert werden, ihre Schülerinnen und Schüler gerecht zu fördern. Denn die Interventionsstudie, die Professor Markus Neuenschwander als Teil des SCALA-Projekts durchgeführt hat, bestätigt eindeutig, was schon lange vermutet wurde: Oft schneiden Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule schlecht ab, weil die Erwartungen an sie tiefer sind, als objektiv angezeigt wäre.
Diesen sogenannten «Pygmalioneffekt» im Alltag zu vermeiden ist schwierig, selbst für hoch sensibilisierte Lehrer wie Dieter Blatt. Dieser erzählt, er habe durch SCALA insgesamt zwar sehr gute Rückmeldungen bekommen, und er fühle sich auf seinem Weg «bestärkt». Doch bei zwei, drei Punkten habe auch er sich verschätzt, «meine Erwartungen gegenüber einzelnen Kindern waren zu tief», resümiert Blatt. Dies zu erkennen, habe ihn in seinem Berufsstolz etwas getroffen. Was nimmt er daraus mit? «Dass man ständig aufmerksam bleiben muss», sagt er nachdenklich. «Man ist nie auf der ‚sicheren Seite’, sondern muss sich stets aufs Neue bewusstmachen, wie vielschichtig das Ganze ist.»

Stereotypen aufbrechen

Klingt logisch. Bloss, wie setzt man die Erkenntnis im Alltag um? Hier setzt SCALA an: «In der Weiterbildung beschäftigen wir uns intensiv damit, wie stereotype Annahmen entstehen, und wie sich diese in der persönlichen Haltung ausdrücken», erzählt Maria Kassis. Die Erziehungswissenschaftlerin der PH FHNW hat gemeinsam mit der Züricher Pädagogin Dorothea Baumgartner das Coaching innerhalb von SCALA entwickelt. Eine anspruchsvolle Aufgabe, wie Kassis erläutert: «Für die Beteiligten, auch wenn sie hochmotiviert sind, ist es nicht immer angenehm, den Spiegel vorgehalten zu bekommen und sich eigene Stereotypen einzugestehen.» Dorothea Baumgartner ergänzt: «Im Unterrichtsalltag handeln Lehrpersonen oft unbewusst: Sie greifen auf Muster und Automatismen zurück, die in der Vergangenheit erfolgreich waren – die aber nicht unbedingt gerecht sind. Solche Automatismen versucht die Weiterbildung zu durchbrechen.»
Zum Beispiel mit Rollenspielen: Die Kursteilnehmenden mimen einen «Firmenapéro», dabei wird einem Teilnehmer ein bestimmter Part zugeschrieben. Etwa: der prominente Gast; oder die Praktikantin; oder die dunkelhäutige Hilfskraft, die Getränke und Häppchen serviert. Der Clou dabei: Die betreffende Person weiss als einzige der Gruppe nicht, welche Rolle sie zu spielen hat – sie erfährt es indirekt, am Verhalten der anderen. «Das war schon heftig», erinnert sich Dieter Blatt, «wenn man sozusagen am eigenen Leib zu spüren bekommt, wie es sich anfühlt, Migrant zu sein.»

Zum Coaching gehört auch das Angebot, die Lehrpersonen eins zu eins im Klassenzimmer zu begleiten. «Uns ist wichtig, beim Coaching vor allem die gelungenen Aspekte zu betonen – und davon ausgehend Vorschläge zu machen, wie manches noch besser gelingen könnte,» erläutert Maria Kassis. Dorothea Baumgartner erzählt, sie sei bei ihren Besuchen oft tief beeindruckt gewesen vom Unterricht der Lehrpersonen. In einer Klasse etwa hätten bis auf zwei Kinder alle einen Migrationshintergrund gehabt. «In einer solchen Klasse die Leistungsfähigkeit der Lernenden wahrzunehmen, und die Lehrperson darin zu bestätigen, dass sie noch mehr darauf vertrauen darf: Das wollen wir mit dem Coaching.»

Kinder als Experten

Brigitte Simeon fühlt sich durch die SCALA-Weiterbildung, die sie vor zwei Jahren durchlaufen hat, vor allem eines: nämlich bestätigt. Die Primarlehrerin unterrichtet im Quartierschulhaus Zofingen AG – und zwar ziemlich unkonventionell. Sie gibt zum Beispiel keine Hausaufgaben, die nicht schon in der Schule lösbar sind, da nicht selbstverständlich erwartet werden kann, dass die Schülerinnen und Schüler von den Eltern gleichermassen unterstützt werden. Simeon setzt konsequent auf einen individualisierten Unterricht, bei dem die Kinder nach eigenem Ermessen entweder Basis-Aufgaben erfüllen oder – freiwillig – mehr machen können; Anreiz für Mehrleistung sind sogenannte Happy-Stempel, und wenn fünf beisammen sind, winkt ein Preis aus der Schatzkiste. Schliesslich nutzt Brigitte Simeon für den Schulstoff auch die Ressourcen der Kinder, indem diese selbst bestimmen, ob sie Mathe-Aufgaben von der Lehrerin oder von einem Gschpäänli erklärt bekommen wollen. «Oft sind die Kinder die besseren Expertinnen und Experten», sagt sie lakonisch.

Das Quartierschulhaus Zofingen ist typisch «Unterdorf»: viel Industrie und Blockwohnungen in der Nähe, in den Klassenzimmern viele Kinder mit Migrationshintergrund. Als Brigitte Simeon bei SCALA teilnahm, zählte ihre Klasse 26 Schülerinnen und Schüler aus einem Dutzend Nationen, mehrere Kinder erhielten zudem sonderpädagogische Unterstützung. «Die heterogene Zusammensetzung in meiner Klasse finde ich sehr viel spannender.» Und nicht selten schaffen es Schülerinnen und Schüler aus ihrer Klasse in die Bezirksschule oder ans Gymi. Ungeachtet ihrer Herkunft.

Mehr Chancengerechtigkeit im Unterricht durch die SCALA-Weiterbildung

Prof. Dr. Markus P. Neuenschwander, Leiter Zentrum Lernen und Sozialisation der Pädagogischen Hochschule FHNW

PISA Ergebnisse zeigen, dass die Schülerleistungen in der Schweiz im internationalen Vergleich besonders stark von der Herkunft und dem Migrationshintergrund der Kinder abhängen. Das ist ein Widerspruch zu den Prinzipien der Chancengerechtigkeit, der in anderen OECD-Ländern nicht so ausgeprägt ist wie in der Schweiz.

Chancenungerechtigkeit im Bildungssystem

Warum ist das so? Dazu gibt es zwei Begründungen. Einerseits tragen die Bildungsstrukturen wesentlich zur Bildungsungerechtigkeit bei. So führt beispielsweise der frühe Selektionsübergang nach der Primarstufe und die darauffolgenden drei unterschiedlichen Leistungszüge zu Benachteiligungen von Kindern mit Migrationshintergrund und von Kindern aus bildungsfernen Milieus. Die Leistungs- und Herkunftsunterschiede würden sich durch eine spätere Selektion abschwächen. Eine Sekundarstufe ohne Leistungsniveaus, wie sie etwa die skandinavischen Länder, Frankreich, England und USA oder der Kanton Tessin kennen, liesse den Jugendlichen einen grösseren Entwicklungsraum.

Erwartungen beeinflussen Leistung

Andererseits sind auch Prozesse im Unterricht für das Entstehen von Chancenungerechtigkeit zentral: Aus der Forschung wissen wir, dass Erwartungen und Überzeugungen von Menschen immer durch gesellschaftliche Stereotypen mitgeprägt sind. Menschen beurteilen das Verhalten von anderen Menschen so, dass es möglichst mit dem entsprechenden Stereotyp korrespondiert. Insbesondere im Unterricht können stereotype Annahmen zu Chancenungerechtigkeit führen. Erwartet eine Lehrperson beispielsweise tiefere Leistungen von Kindern mit Migrationshintergrund, äussert sich das in ihrem Verhalten (z.B. weniger Unterstützung). So werden solche Erwartungen selbsterfüllend (sog. Pygmalion-Effekt). Es besteht also die Gefahr, dass beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund versuchen, die tiefen Leistungserwartungen der Lehrperson zu erfüllen und schlechtere Leistungen zeigen, die nicht ihrem Potenzial entsprechen.

Studie und Weiterbildung

Um Chancengerechtigkeit im Unterricht zu erhöhen, führten wir, finanziert von der Stiftung Mercator Schweiz, die Interventionsstudie SCALA durch. Das Projekt umfasst 66 Lehrpersonen mit circa 1’100 Schülerinnen und Schüler des 4. bis 6. Schuljahres (Fächer: Deutsch und Mathematik) sowie deren Eltern aus 6 Deutschschweizer Kantonen. Die Ergebnisse replizieren für die Schweiz: Trotz gleich guten Leistungen erwarten Lehrpersonen von Kindern mit Migrationshintergrund oder mit sozioökonomisch schwächerem Status geringere Leistungen. Auch in Bezug auf das Geschlecht gibt es einen Unterschied: Trotz gleichem Ergebnis im Leistungstest werden höhere Leistungen von Mädchen im Fach Deutsch erwartet als von Buben. Dies lässt vermuten, dass die Förderung und Beurteilung der Kinder im Unterricht oft nicht so gerecht ausfällt, wie sie eigentlich sollte.

Mit dem Ziel, faire Bedingungen für alle Schülerinnen und Schüler zu schaffen, erarbeitete das SCALA-Forschungsteam eine Weiterbildung für Lehrpersonen, in der sie auf (eigene) Stereotypen sensibilisiert wurden. Erste Ergebnisse belegen die Wirksamkeit: Es ist gelungen, dass Lehrpersonen nach der Weiterbildung entgegen dem gesellschaftlichen Stereotyp Leistungserwartungen an die Schülerinnen und Schüler richten, die nicht mehr nach dem Migrationshintergrund der Kinder verzerrt sind. In der Kontrollgruppe wurde diese Veränderung nicht beobachtet. Die Studie zeigt, dass die Haltungen der Lehrpersonen verändert werden können und somit die Schülerbeurteilung fairer wird und damit die Effekte der Benachteiligung abgeschwächt werden können.

Weitere Informationen: www.fhnw.ch/ph/scala

Diese Seite teilen: