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«Aus dem Moment heraus agieren, mit Unerwartetem umgehen»

Mit theatralen Mitteln können Kinder besser lernen und Lehrpersonen besser lehren.

19.4.2018 | Pädagogische Hochschule

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Lehrpersonen und Schauspieler sind einander ähnlich: Studierende lernen an der PH theatrale Methoden kennen. Foto: André Albrecht.

Wer eine Bühne betritt, exponiert sich – ähnlich wie Lehrpersonen, die vor Schülerinnen und Schülern stehen. Die Pädagogische Hochschule bereitet angehende Lehrpersonen mit theatralem Lernen darauf vor, spielerisch und kreativ in unvorhersehbaren Momenten zu agieren – und nicht nur das. Vorhang auf für ein Fach, in dem es kein Richtig oder Falsch gibt.

Aus der Komfortzone treten

Die Luft in der Aula der PH Solothurn scheint zu knistern. Die rotgewandeten Studierenden mutieren zu Löwenjägern. Reihum mimen sie verschiedene Gefahren, die es zu überwinden gilt – einen Wasserfall, einen Sturm, einen Gletscher, den Dschungel, Lava. Die Übung verlangt nach Improvisation, nach Körpereinsatz vom Kopf bis zur Zehenspitze. Es wird geheult, gebrüllt, geflüstert – und gelacht: «Wagt etwas, kommt raus aus der Komfortzone!», hat die Dozentin Murielle Jenni die Gruppe zu Beginn aufgefordert. Nur wer sich in die Risikozone begebe, sei imstande zu lernen.

Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb sich Studierende aller Stufen für Theaterpädagogik interessieren und das entsprechende Schwerpunktfach gewählt haben: Im theatralen Lernen sehen sie Möglichkeiten, ihre Professionalität zu üben. Es geht um Auftrittskompetenz, Stimmführung, die Fähigkeit zu improvisieren und sich selber von aussen zu betrachten, kurz also: um die Präsenz. «Improvisation ist das Tagesgeschäft des Unterrichtens», sagt Dozentin Regina Wurster, die die Beratungsstelle Theaterpädagogik leitet. «Lehrerinnen und Lehrer müssen ständig aus dem Moment heraus agieren, mit Unerwartetem umgehen können», sagt Regina Wurster. Dies sei ein Stück weit eine Gabe, aber vieles könne man sich auch aneignen.

Szenische Werkzeuge erarbeiten

Zum Beispiel im Modul «Theaterpädagogik» bei Murielle Jenni: Die Studierenden stehen vor der Bühne am Klavier und bilden in spannungsgeladenen, unterschiedlichen Posen zusammen ein harmonisches Standbild. Als hätte eine Künstlerin den Aufbau komponiert. Auf einmal löst sich die Spannung, alle rennen wild schreiend durcheinander, um dann plötzlich wieder zu erstarren. Die Szene heisst «Freak out mit Engelsstopp» und stammt aus dem Methoden-Repertoire der deutschen Theaterpädagogin Maike Plath. An ihr komme derzeit niemand vorbei, der oder die sich mit Theaterpädagogik beschäftige, sagt Murielle Jenni. Plaths Lehrmittel besteht aus einer Sammlung von Karten, auf denen die szenischen Werkzeuge notiert und erklärt sind, die Schauspieler beherrschen müssen: Sprache (flüstern, schreien, rezitieren), Bewegungsabläufe (humpeln, kriechen winken) oder Gefühlszustände (Wut, Angst, Stolz). 

Szenenwechsel an den Campus Brugg-Windisch: Hier besuchen Studierende am Mittwochabend ebenfalls den Modulkurs. «Sechs Uhr abends ist eine schwierige Unterrichtszeit», sagt Dozent Mark Roth, «doch die Studierenden kommen gerne, sie sind sehr offen für alles, was hier passiert.» Und die Voten der Studierenden geben ihm recht: «Ich lerne sehr viel über mich selbst, und das Lernen passiert analog durchs Tun, über viel Körperarbeit und Bewegung», sagt etwa Lia Kiener. Das gefalle ihr. Christian Bläuer erzählt, er sei von den Möglichkeiten des theatralen Lernens in der Schule fasziniert, deswegen wolle er während der Ausbildung möglichst viele Erfahrungen sammeln. Übungen wie die folgende kommen diesem Bedürfnis entgegen: Roth leitet an, die Körperspannung auf einer Skala von eins bis zehn zu verändern, von maximaler Schlaffheit bis zu grösster Anspannung. «Wenn man angespannt ist, geht automatisch die Stimme hoch», erklärt er. Nicht so toll, um Präsenz zu markieren. Deshalb: «Wenn ihr vor eine Klasse tretet, achtet auf den Muskeltonus.»

Spielend Lerninhalte vermitteln

«Kinder begreifen die Welt im Spiel» erklärt Regina Wurster. «Von klein auf erobern wir alles Materielle und Lebendige spielend und entfalten so unsere Fähigkeiten, sei’s in den diversen Übungssettings, der Improvisation oder im freien Spiel.» Diese Eigenschaften des Homo ludens, des spielenden Menschen, macht sich die Theaterpädagogik zu eigen – indem sie spielend auch Lerninhalte vermittelt.
Mark Roth illustriert dieses Prinzip in der nächsten Übung, in der es um Assoziationen und sprachliche Verknüpfungen geht: Eine Person in der Mitte sagt beispielsweise: «Ich bin der Strom.» Aus dem Kreis müssen nun möglichst rasch zwei Partner zum Strom stossen  – «ich bin das Kabel» und «ich bin das Rührgerät» wären möglich. Der Strom verlässt die Mitte und nimmt einen Partner mit, worauf der verbleibende Partner – das Rührgerät oder das Kabel – nun seinerseits zwei Partner sucht. Das Rührgerät bekäme vielleicht einen Teig und die Küche, das Kabel möglicherweise einen Stecker und das Kraftwerk.
Nicht nur sprachliche, auch naturwissenschaftliche Inhalte lassen sich so vermitteln. Zum Beispiel die Genschere CRISPR, mit der Forschende fehlerhafte Bereiche im Erbgut austauschen. Wie das funktioniert, begreifen manche Schülerinnen und Schüler am besten, indem sie buchstäblich in die Rollen von DNA-Bausteinen und Proteinen schlüpfen und den Prozess nachspielen.


Wie die Schule aufs Theater kam

Georges Pfründer, Leiter Professur für Kulturvermittlung und Theaterpädagogik an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Theater und Spiel haben in der Schule eine lange Tradition. Wer hat nicht in einer Märcheninszenierung mitgewirkt, in der schuleigenen Theatergruppe gespielt oder sogar experimentelle Stücke geschrieben? Oft bleiben uns diese Erinnerungen als starke Momente wichtiger Begegnungen mit einer ästhetischen Erfahrung im Gedächtnis. Theatrales Spiel kann aber noch mehr: Dank Spielanordnungen können wir zu disziplinenübergreifenden Bildungserfahrungen kommen, die uns in neue Verhältnisse zu uns und der Welt setzen.

Mittel der gesellschaftlichen Bildung

Theaterpädagogische Praxis ist im Kontext gesellschaftlicher Prozesse in stetem Wandel begriffen. Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich das Feld der Theaterpädagogik in den 1970er Jahren mit einer doppelten Motivation: Zum einen sollte einem neuen Zielpublikum – Kindern und Jugendlichen – ein unmittelbares Theatererlebnis eröffnet werden. Darüber hinaus wurde Theaterpädagogik als Mittel der gesellschaftlichen Bildung verstanden: Im Spielen und im Nachdenken übers Spielen sollten persönliche und gesellschaftliche Handlungskompetenzen gefördert werden, um so einen wichtigen Beitrag zur Mündigkeit und politischen Teilhabe zu leisten. Während in den 1980er Jahren ästhetische Bildung als Persönlichkeitsbildung im Vordergrund stand, wird der Theaterpädagogik in den letzten Jahrzehnten wieder ein doppelter Auftrag – gesellschaftliche und ästhetische Bildung – zugeschrieben. Ästhetische Schlüsselkompetenzen sollen uns befähigen, unsere komplexen Realitäten zu reflektieren und zu bearbeiten. Wir sehen im Kunst-Spiel die Möglichkeit, das Gesellschaftliche im Spiegel «anders», nämlich als Gestaltungsaufgabe, zu entdecken und so zu neuen Sichtweisen zu gelangen.

Interdisziplinäres Lernen

Richtungsweisend für das theatrale Lernen als gemeinschaftlich bildender und ästhetischer Auftrag war der brasilianische Theaterpädagoge Augusto Boal, der mit seinen Methoden Zugänge zu sozialen Lern-Prozessen konzipiert hat, die heute weltweit Verwendung finden. Gerade im Umgang mit Diversität, aber auch in verschiedensten prozessorientierten Lernsituationen, kommen seine Theatertechniken zum Einsatz. In Disziplinen wie Deutsch, Geschichte, Geographie usw. können diese Methoden in der Schule einfach integriert werden.
Dass Boals Spielmethoden auch für PH-Studierende geeignet sind, zeigt ein Versuch, den wir mit der Pädagogischen Hochschule der Italienischen Schweiz und der Theaterakademie Dimitri entwickelt haben: ein performativer Workshop zum Thema Diversität.
Mit Kollegen und Kolleginnen aus der Erwachsenenbildung und dem Interdisziplinären Fachunterricht entwickeln wir nun neue Versuchsanordnungen, die theatrales Lernen im Schulraum zum Thema Digitales beinhalten. Wir verstehen dabei das Digitale als ein gesellschaftliches Phänomen, wovon unsere Gemeinschaftsverständnisse betroffen sind und in neue Bewegung kommen. Genau hier soll uns das theatrale Lernen weiterbringen: Im ästhetischen Zusammen-Spielen kann ein kollektives Erproben hin zu neuen sozialen Vorstellungen eröffnet werden – und damit auch ein produktives Nachdenken über mögliche Formen der Zukunft unserer Gesellschaften im Zeitalter des Digitalen.

«Sichere Risiken» eingehen

Hauptziel des theatralen Lernens ist die Ermutigung zu verändertem Handeln und ein gemeinsames Nachdenken darüber ¬– eine Ermutigung der Lehrpersonen wie der Schülerinnen und Schüler, im sicheren Raum des Spiels Risikos einzugehen und dabei auch scheitern zu dürfen. Das bringt ein Bilden hervor, das weder absehbar noch planbar ist, denn die Spielenden modellieren das Spiel (Erfahrungen und Ergebnisse), und das Spiel wiederum modelliert die Spielenden (neues Selbst- und Gemeinschaftsverständnis).

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