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«Ein Schritt vom Minus zum Plus»

Hyperaktivität und Impulsivität von Kindern werden oft als Störungen wahrgenommen und bilden eine grosse Herausforderung für Lehrpersonen. Der Schritt, Kinder psychologisch abzuklären und medikamentös zu behandeln, liegt nahe. Dass es aber auch pädagogische Lösungen gibt, zeigt die FOKUS-Studie der Pädagogischen Hochschule FHNW.

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Selbstverantwortung und klare Strukturen unterstützen dabei, Störungen im Unterricht zu verhindern. Foto: Adriana Bella (Themen-Bild).

Brugg-Windisch, 22.4.2017, Text: Michael Hunziker

Mitten im Unterricht Kämpfe anzetteln, ständiges Dreinschwatzen, nicht ruhig Sitzenbleiben können – die Liste der Unterrichtsstörungen mit denen Lehrpersonen täglich konfrontiert sind, liesse sich endlos weiterführen. Für alle Beteiligten sind sie eine grosse Belastung. Der Schritt, hyperaktive Kinder psychologisch abzuklären und medikamentös zu behandeln, liegt nahe. Dass es für Kinder aber auch pädagogische Lösungen gibt, zeigt die FOKUS-Studie der Pädagogischen Hochschule FHNW (siehe Fachbeitrag).

Störungen nicht übertragen

Dorothée Pudewell, Primarlehrerin mit 25 Jahren Erfahrung und Mitarbeiterin bei der PH-Studie, steht vor ihrer Klasse in Dornach. Es ist nach der grossen Pause und die Kinder sind noch aufgekratzt, springen wild durcheinander. Pudewell beginnt, rhythmisch in die Hände zu klatschen, die Kinder stimmen ein und sammeln sich. Nur ein Junge will sich nicht darauf einlassen und geht im Klassenzimmer umher. Die Lehrerin gibt ihm gleich eine Aufgabe, klar und bestimmt, bevor sie sich an die Klasse wendet. Der Junge nimmt sich sein Arbeitsheft und setzt sich an einen Einzelplatz. „Damit keine Negativspiralen entstehen und wir uns gegenseitig hochschaukeln, ist es wichtig, dass ich solche Störungen nicht auf mich übertragen lasse“, sagt Dorothée Pudewell im Gespräch. Als Lehrerin sei es wichtig, sich bewusst zu werden, „die Kinder haben einen Grund, sich so zu verhalten.“ Oft seien Unklarheiten und Unsicherheiten die Gründe für Unterrichtsstörungen.

Verantwortung tut gut

Innerhalb von fünf Minuten wissen alle Schulkinder, was sie zu tun haben. Ein paar arbeiten draussen im Gang. Als die Lehrerin selbst einmal das Zimmer verlässt, entwickelt sich nach einer Weile eine kleine Rangelei. „Nicht streiten!“ rufen gleich zwei Kinder. Und die Zankenden wenden sich wieder ihrer Aufgabe zu. Die Situation haben sie selbst geregelt. „Wenn Kinder merken, dass sie Verantwortung haben, tut ihnen das gut“, sagt Pudewell. „Die Kinder lernen so, auf ihre Bedürfnisse zu hören und diese kompetent einzufordern.“ Die Lehrerin baut auf Selbstverantwortung und gibt gleichzeitig klare Strukturen vor. Das Klassenzimmer hat Gruppenarbeitsbereiche und gegen die Wand ausgerichtete Einzelarbeitsplätze. In der Mitte steht das „Buffet“, ein länglicher Korpus mit verschiedenen thematischen Lernspielen. Nach dem die Kinder mit den Aufgaben fertig sind, können sie sich hier Spiele aussuchen.

Schickt Pudewell jemanden zum Lernen vor die Tür, an den Einzelarbeitsplatz, oder bietet einer Schülerin Kopfhörer an, damit sie sich von den anderen nicht ablenken lässt, dann verstehen das die Kinder nicht als Strafe. „Diese Massnahmen entschärfen Situationen unmittelbar und beruhigen die ganze Klasse“. Sie fänden unter positiven Vorzeichen statt: „Die Kinder wissen, ich kann mich am speziellen Arbeitsplatz besser konzentrieren – und die Plätze stehen allen zur Verfügung. Somit wird niemand ausgegrenzt.“

Impulse in die richtige Bahn lenken

Dorothée Pudewell hat innerhalb der FOKUS-Studie Lehrpersonen weitergebildet. Viele Kollegen und Kolleginnen hatten das Bedürfnis, ihren Umgang mit Störungen zu verändern. Hierbei müsse man zuerst bei der eigenen Einstellung ansetzen: „Vom Minus zum Plus ist es ein kleiner Schritt“, erzählt Pudewell, „das ist jeweils wie ein kleiner Erleuchtungsmoment, zu sehen, wie man die Impulse produktiv in die richtigen Bahnen lenken kann und nicht wütend wird.“

Eine der Stärken der FOKUS-Studie sei, dass nicht nur das Kind und seine Verhaltensweisen im Zentrum stehe, sondern dass das ganze Umfeld miteinbezogen werde – Eltern, Lehrpersonen, Mitschüler, erzählt Jennifer Fräulin. Die Mitarbeiterin der Pädagogischen Hochschule hat die Effekte der Weiterbildung beforscht. „Es hat sich gezeigt, dass niederschwellige Massnahmen, kleine Gesten als Strukturierungshilfe eine starke Wirkung entfalten.“

Da Hyperaktivität, schulische Misserfolge oder mangelnde soziale Integration bei Kindern einen späteren riskanten Umgang mit Suchtmittel begünstigen, erhofft man sich beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) als Auftraggeber, dass die Resultate der Studie präventiv wirken. Zudem lässt die Studie laut Salomé Steinle vom BAG schliessen, „dass der Einsatz von Medikamenten in der Behandlung von ADHS reduziert werden könnte, wenn es gelingt, Symptome bereits früh und adäquat mit pädagogischer Intervention zu begegnen.“

Sicherer, gelassener, souverän

Als die Lehrerin Andrea Schibli mit 27 Jahren Berufserfahrung eine Klasse mit zwei Kindern mit ADHS übernahm, kam eine sehr grosse Herausforderung auf sie zu. „Der Junge war aggressiv und es war bereits ein Kraftakt, ihn schon nur ins Klassenzimmer zu bringen. Das Mädchen war ständig laut und akzeptierte keine Regeln – eine normale Schulstunde war nicht möglich“, erzählt sie. Diese Situation spornte die Lehrerin an, an der FOKUS-Studie teilzunehmen und eine Weiterbildung an der PH bei Dorothée Pudewell zu besuchen. Obwohl die beiden Kinder mittlerweile in anderen Settings untergebracht sind, Störungen und Hyperaktivität gehören nach wie vor zum Berufsalltag von Schibli. So hat sie für einen Jungen mit Tobsuchtsanfällen im Schulzimmer mit einem Paravent ein „Büro“ eingerichtet. Er konnte die Aufträge hören, wurde aber visuell nicht abgelenkt. Die Tobsuchtsanfälle nahmen ab. Zudem arbeitet Schibli mit klaren Ritualen und einer fixen Struktur: „Mit Regeln macht man es den Kindern einfacher.“ Durch die Weiterbildung sei sie viel sicherer, gelassener und souveräner geworden im Umgang mit Störungen. „Und das färbt auch auf die Klasse ab“.


Pädagogische Lösungen für Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit

Prof. Dr. Markus P. Neuenschwander, Leiter Zentrum Lernen und Sozialisation Pädagogische Hochschule FHNW

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) erhalten aktuell in Gesellschaft und Politik viel Aufmerksamkeit. Diese Störungen sind verbreitet und beeinträchtigen nicht nur das Lernen, die Leistungen und die Schulkarriere der Kinder. Als Jugendliche und junge Erwachsene kommt es bei vielen Betroffenen zu einer erhöhten Neigung zu Suchtmittelkonsum und Gewalt. Entsprechend können diese Verhaltensstörungen den Eintritt in die Berufstätigkeit erschweren. Nicht zuletzt belasten sie Lehrpersonen im Unterricht.

Manchmal werden klinische Diagnosen vorschnell gestellt und die störenden Symptome medikamentös behandelt. Das kann für die Betroffenen und ihren späteren Lebenslauf unabsehbare Konsequenzen haben. Längst nicht in allen Fällen braucht es eine medikamentöse Ritalin-Behandlung. Es gibt pädagogische Massnahmen, um Kinder mit einer Neigung zu ADHS in der Schule zu fördern. Wir gehen davon aus, dass sich diese Massnahmen auch bei Kindern mit diagnostizierten ADHS positiv auswirken. Je nachdem, wie die Schule mit solchen Störungen umgeht, lässt sich verhindern, dass Kinder als Störenfriede gelten und in diesem Sinn stigmatisiert werden.  

Weiterbildung auf drei Ebenen

In der Interventionsstudie "Förderung von Kindern mit Unaufmerksamkeit und Verhaltensauffälligkeiten in der Schule (FOKUS)" bildeten wir, finanziert vom Bundesamt für Gesundheit, Lehrpersonen im ersten und zweiten Schuljahr im Umgang mit „schwierigen“ Kindern weiter. In dieser Weiterbildung ging es darum Lehrpersonen auf drei Ebenen mit Instrumenten im Umgang mit Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit vertraut zu machen. Auf Ebene der Klasse ging es um Vermittlung von Konzepten der Klassenführung: Aspekte wie Klassenregeln, Rituale, die Raumgestaltung, Verbildlichung des Arbeitsplanes standen hier im Zentrum. Auf individueller Ebene ging es um die Vermittlung von kinderzentrierten Massnahmen. Diese umfassten etwa Konzentrationstraining, Bewegungspausen, Einzelarbeit, positive Erwartungshaltung. Auf der dritten Ebene wurde auf die Zusammenarbeit mit den Eltern fokussiert – Formen des Austausches, der Wertschätzung und der Koordination galt es zu entwickeln. Die Weiterbildung wurde in einem Team mit Erziehungswissenschaftlern der PH und Primarlehrpersonen mit langjähriger erfolgreicher Praxis erarbeitet und von den Primarlehrpersonen durchgeführt. An der drei Jahre dauernden Studie nahmen 137 Lehrpersonen teil.

Kinder sind besser integriert

Die Evaluation der Weiterbildung zeigte, dass die Lehrpersonen danach über höhere Kompetenzen im Umgang mit Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten verfügen und dass sie mit der Situation der Kinder zufriedener waren. Die Kinder waren nach der Weiterbildung der Lehrpersonen in der Klasse sozial integrierter. Dass der Stand der Integration und die Klassenkomposition bei der Entwicklung der Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität der Kinder ein gewichtiger Faktor ist, zeigen weitere Ergebnisse. Die FOKUS-Studie belegt, dass es möglich ist, durch Lehrpersonen-Weiterbildung und mit pädagogischen Massnahmen die Situation von unaufmerksamen, hyperaktiven und impulsiven Kindern im Regelunterricht der Grundschule zu verbessern und deren schulisches Leistungsvermögen zu fördern. Folgern kann man daraus, dass dadurch indirekt auch eine Prävention gegen Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter geleistet werden kann.

Die Weiterbildung wird an der Pädagogischen Hochschule FHNW derzeit als regulärer Kurs angeboten. Er ist zudem in das Schulentwicklungsprogramm "Soziales Lernen an Schulen" (SOLE) integriert. Der FOKUS Ansatz wird zukünftig dank einer Kursleiterweiterbildung auch in anderen Pädagogischen Hochschulen der Deutschschweiz vermittelt. Zudem werden in den Studiengängen der Pädagogischen Hochschule FHNW angehende Lehrpersonen mit dem FOKUS-Ansatz vertraut gemacht.

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