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«Es funktioniert, Integration ist möglich»

Schulklassen sind heute viel durchmischter als früher und der Bedarf an Schulischen Heilpädagoginnen und -pädagogen ist stark angestiegen. Vielerorts sind die Stellen schwer zu besetzen. Die Pädagogische Hochschule FHNW bereitet Lehrpersonen mit Weiterbildungen und einem Masterangebot auf inklusiven Unterricht vor.

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«Jedes Kind dort fördern, wo es Bedarf hat»: Lehrerin Rahel Stampfli unterrichtet inklusiv. Foto: André Albrecht.

Brugg, 21.6.2017

Als Sabina Ribaudo Anfang der neunziger Jahre das Lehrerseminar absolvierte, wurden Kinder mit Beeinträchtigungen üblicherweise in Sonderschulen oder Kleinklassen unterrichtet. Die Gesamtschule Zürich Unterstrass jedoch, wo die 20-Jährige ihre Praktika absolvierte, setzte schon damals auf Integration. Die angehende Primarlehrerin traf dort auf Kinder mit Down Syndrom, ADHS oder Lernschwäche, die in den Regelunterricht integriert wurden. «Was ich aus dieser Zeit mitnahm, war die Überzeugung: Es funktioniert, Integration ist möglich», erzählt Sabina Ribaudo.

Solche Erfahrungen galten damals als pionierhaft, heute sind sie selbstverständlich – oder sollten es zumindest sein. Denn seit 2004 sind die Kantone durch das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet, die Integration von Schülerinnen und Schülern mit «besonderem Bildungsbedarf» der Separation voranzustellen. Diese Aufgabe ist nur ein, aber ein besonderer wichtiger Aspekt der Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2015 mitunterzeichnet hat. Es geht um die Teilhabe an allen Lebensbereichen, um «Inklusion».

Grosser Bedarf an Fachleuten

Schulklassen sind heute viel durchmischter, viel «heterogener» als früher und der Bedarf an Schulischen Heilpädagoginnen und -pädagogen ist stark angestiegen. Vielerorts sind die Stellen schwer zu besetzen. Um die Ausbildung von Nachwuchskräften kümmert sich die Pädagogische Hochschule FHNW, die einen Masterstudiengang in Sonderpädagogik anbietet. Zudem können sich Lehrpersonen auch über die CAS-Weiterbildungen der Pädagogischen Hochschule für die Arbeit in inklusiven Schulen qualifizieren (s. Fachbeitrag).

Sabina Ribaudo besucht diesen CAS. Sie unterrichtet als Schulische Heilpädagogin in Trimbach, in der 5. Klasse von Klassenlehrerin Rahel Stampfli, welche die Weiterbildung der PH ebenfalls absolviert. «Nach einer Familienpause wollte ich vor drei Jahren meinen Beruf wiederaufnehmen», erzählt Sabina Ribaudo. Da schienen die Lektionen, die in Trimbach zu besetzen waren, gerade richtig – nur waren es eben Lektionen in Heilpädagogik. Ribaudo hatte erst Zweifel, ob sie dafür qualifiziert sei. Doch als die Stelle monatelang unbesetzt blieb, gab sie sich einen Ruck, bewarb sich und wurde prompt eingestellt.

Ihre Kollegin Rahel Stampfli hatte ihrerseits das Gefühl, ihr pädagogisches Grundwissen reiche für den inklusiven Unterricht nicht mehr aus, «manches war für mich unbefriedigend», erzählt Stampfli. Als im Mai 2016 feststand, dass sie und Ribaudo fortan im Tandem unterrichten würden, machte Sabina Ribaudo den Vorschlag: «Lass uns den CAS gemeinsam besuchen!» Und Rahel Stampfli sagte spontan zu.

Gemeinsames Konzept

Sabina Ribaudo und Rahel Stampfli vertreten zum inklusiven Unterricht beide ein glasklares Credo: «Es braucht ein gemeinsames Konzept, das Heilpädagogin und Klassenlehrperson zusammen erarbeiten – nur so funktioniert es», sagen sie unisono. An ihrer Schule in Trimbach werde diese Haltung durch einen Zusammenarbeitsvertrag gestützt, den sie beide unterschrieben hätten – ein Akt der Verbindlichkeit, den auch die Pädagogische Hochschule FHNW empfiehlt. Das Gelernte aus dem CAS können sie praktisch nahtlos im Alltag umsetzen. «Wir arbeiten in situativen Teams, geleitet von der Frage: Was braucht’s im Moment?» Das könne Einzelförderung sein, Förderung in kleinen Gruppen, Teamteaching oder Halbklassenunterricht. «Somit werden alle Kinder der Klasse dort gefördert, wo sie es brauchen.»

Ressourcenorientierter Blick

Auch im Masterstudiengang Sonderpädagogik ist der Begriff Kooperation zentral. Diese Erfahrung macht Rahel Heinzelmann, die nach ihrem Bachelorabschluss an der Pädagogischen Hochschule direkt das Masterstudium angehängt und das zweite Semester bald abgeschlossen hat.

Viele ihrer Seminare, erzählt Rahel Heinzelmann, würden sich den sogenannten systemischen Aspekten widmen. Wie sind die Familienkonstellationen der Kinder, welche Position etwa hat ein Kind in der Geschwisterreihe? Wie verbringt es seine Freizeit, wo ausser in der Schule oder im Wohnquartier hat es noch Freunde? «Unsere Lehrveranstaltungen schärfen den Blick für solche Fragen», sagt Rahel Heinzelmann, «und statt eines defizitorientierten Blicks helfen sie uns zu erkennen, wo Kinder Ressourcen haben.» Das Studium vermittle keine «schnellen, rezeptartigen Lösungen», sondern bereite im Gegenteil darauf vor, dass man herausfordernde Situationen verstehen und praxistaugliche Lösungen finden könne. Im nächsten Semester wird Heinzelmann das Gelernte in einem Teilpensum an einer baselstädtischen Regelschule umsetzen. Sie fühlt sich bestens vorbereitet.

Doch in der Sonderpädagogik ist man nie «fertig». Das sagt die 53-jährige Ute Albert, die im aargauischen Mumpf als schulische Heilpädagogin arbeitet und die jetzt, nachdem sie an der PH bereits den CAS absolviert hat, ab Herbst mit dem Masterstudiengang weitermachen will. Dabei hat Albert ursprünglich Erziehungswissenschaften studiert und in Deutschland während vieler Jahre in Förderschulen gearbeitet. Warum studiert sie als gestandene Berufs- und Sonderpädagogin mit über 50 nochmals? «Weil ich meinen Idealen treu bleiben und mich nicht mit dem Erreichten zufriedengeben will», sagt Albert. Schon im CAS habe sie sehr gute Dozenten gehabt und «viel mitgenommen», das ihren Schulalltag bereichert habe. «Der CAS hat mich auch sozusagen legitimiert, Dinge vorzuschlagen und auszuprobieren, für die mir im Normalfall vielleicht der Mut gefehlt hätte», erzählt sie. So habe sie ein aufwändiges Projekt in den Unterricht eingebracht, die Klassenlehrperson habe mitgezogen, und am Schluss hätten alle Kinder enorme Fortschritte gemacht – «solche Erlebnisse beflügeln».


Ausreichende Schulische Heilpädagogik – was heisst das?

Prof. Dr. Jan Weisser, Leiter Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der Pädagogischen Hochschule FHNW

Viele Schulleiterinnen und Schulleiter haben Schwierigkeiten, Stellen in der Schulischen Heilpädagogik mit dafür qualifizierten Personen zu besetzen. Das ist kein neuer Umstand, aber er erschwert die erfolgreiche Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes und der Behindertenrechtskonvention der UNO, die sich beide an der Idee eines inklusiven Schulsystems orientieren.

Aufgaben der Schulischen Heilpädagogik

Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen leisten einen wichtigen Beitrag für eine Schule, welche das Lernen und die Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler im Blick hat. Sie tragen erweiterte und vertiefte Kompetenzen in die Schulteams, wenn es darum geht, individuelle Lernvoraussetzungen zu erkennen und Barrieren fachlichen und sozialen Lernens zu überwinden – davon profitieren alle Schülerinnen und Schüler. Zudem beraten sie Lehrpersonen und das Umfeld und bringen die Fähigkeit mit, Unterricht und Schule so weiter zu entwickeln, dass Integrations- und Partizipationschancen geschaffen und genutzt werden können. Zu diesem Zweck sieht die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ein Hochschulstudium auf Masterniveau vor. Damit ist qualitativ gesagt, was von der Schulischen Heilpädagogik erwartet werden darf. Wer das Studium absolviert, erbringt den Nachweis, dass er oder sie die entsprechenden Kompetenzen mitbringt.

Wie viel ist genug?

Dass sich eine Klasse ohne Lehrerin nicht führen lässt, ist offensichtlich. Im Unterschied dazu, ist es aber nicht so einfach festzustellen, wie viel Schulische Heilpädagogik benötigt wird, um den oben beschriebenen Herausforderungen gerecht zu werden: Es bestehen kantonal sehr unterschiedliche Vorstellungen über ausreichende Stellenprozente auf beispielsweise 100 Kinder und Jugendliche. Und die Realisierung dieser Vorstellungen hängt wiederum vom regionalen schulischen Angebot ab. Tatsache ist, dass über den Bildungsraum Nordwestschweiz hinaus die vorhandenen Stellen nur schwer besetzt werden können. Und Tatsache ist auch, dass die Studiengänge in Schulischer Heilpädagogik in der Schweiz noch immer Studienplatzbeschränkungen kennen, wohingegen die Studienplätze für Regellehrberufe im Kontext des Lehrpersonenmangels längst  mit der Nachfrage wachsen.

Kreative Lösungen

Was lässt sich in dieser Situation machen, wenn an der Qualität und am national und international legitimierten Anspruch auf ein integratives respektive inklusives Bildungssystem, das allen Schülerinnen und Schülern gerecht wird, nicht gerüttelt werden soll? Die Pädagogische Hochschule FHNW hat, unterstützt durch den Bildungsraum Nordwestschweiz, ein Angebot entwickelt, das den Weg in die Schulische Heilpädagogik für mehr interessierte Personen möglich und attraktiv macht. Der Leitgedanke ist: Lehrerinnen und Lehrer, die sich auf den Weg in die Schulische Heilpädagogik machen wollen, können dies schrittweise tun. Sie können sich einen ersten Baustein in einer Weiterbildung aneignen. Dieser Schritt wird mit einem Zertifikat (CAS) ausgewiesen, dem eine eigene Wertigkeit zukommt. Dieser erste Schritt wird bei einem späteren Studienbeginn im Masterprogramm Sonderpädagogik vollumfänglich anerkannt und an das Studium angerechnet. Oder Lehrerinnen und Lehrer respektive Fachpersonen mit einem verwandten Bachelorstudium (z.B. Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychologie) können gleich mit dem Studium beginnen und dieses auf die maximale Dauer von vier Jahren ausdehnen. Zudem unterstützt die PH FHNW das Anliegen „Männer in die Schulische Heilpädagogik“, ein Projekt der PH Bern.

in Zusammenarbeit mit Patrik Widmer-Wolf, Institut Weiterbildung und Beratung

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