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Geschichte? Reden wir darüber im Netz

Geschichtsbildung online: Neue Talkreihe für Jugendliche und Lehrpersonen.

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Publikumswirksame Diskussion über Geschichte: Professorinnen und Professoren im Studio des interaktiven Geschichtstalks. Foto: zVg.

Wie können sich Jugendliche ein differenziertes Bild des Weltgeschehens machen? Die Pädagogische Hochschule FHNW hat ein neues, interaktives Projekt der Geschichtsbildung gestartet, gemeinsam mit der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf. Vor kurzem war Premiere. Eine rasante Kamerarundfahrt über die Skyline von Düsseldorf, zwei Männer und ein Pinguin stehen auf einer windigen Dachterrasse, dann rein in den Industriebau, übers Treppenhaus ins Zentrum des Geschehens: In das Studio, ausgestattet mit Vintage-Designerstühlen auf grasgrünem Teppich und einer Holzschaukel, auf dem ein überdimensioniertes Stundenglas steht. Das ist das Intro des «Geschichtstalks im Super 7000», der im September gestartet ist. Nicht im Fernsehen, sondern als 60-minütiger Live-Stream im Netz. Gesendet von einem Co-Working-Space namens «Super 7000» - ein ehemaliges Industriegebäude, in dem früher Kartoffeln geschält wurden.

Geschichte und Wahlkampf

In der Premiere geht es ums Thema «Wahlkämpfe als Geschichtskämpfe». Moderator Georgios Chatzoudis stellt gleich zu Beginn klar: «Anders als in den gewohnten Talk-Formaten werden wir nicht über politische Positionen oder Personalien reden, sondern wir werden eine ganz andere Fragestellung in den Mittelpunkt rücken.» Es geht hier um Geschichte, konkret: Um die Vorstellungen von Geschichte, die sich – möglicherweise – aus dem deutschen Bundestagswahlkampf herausdestillieren lassen.

Die nun folgende Diskussion steht tempomässig dem rasanten Intro in Nichts nach, und schnell wird deutlich, worum es den Macherinnen und Machern geht: Sie wollen eine Lücke schliessen. Sie bringen Aspekte aufs Tapet, die man so in den klassischen Medien –insbesondere im Fernsehen – kaum je zu hören bekommt. «Der Wahlkampf träumt die Träume unserer Eltern», konstatiert etwa die Historikerin Antje Flüchter, «der geschichtliche Blick wird auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verengt, in der stetes Wachstum und Erfolg wie selbstverständlich wurden.» Geschichtsdidaktiker Marko Demantowsky von der Pädagogischen Hochschule kritisiert die «eingefrorene Gegenwart» des Wahlkampfs: Niemand formuliere Visionen, wo die Gesellschaft in 20 Jahren stehe.

Junge ansprechen

Den gängigen Wahlkampf-Diskurs stellt die vierköpfige Runde ziemlich auf den Kopf und zeigt dass, wer sich differenziert mit Geschichte auseinandersetzt, die Gegenwart besser versteht.
In mehreren vorproduzierten Einspielungen kommen Nicht-Wissenschaftler zu Wort. Der 20-jährige Krankenpfleger Anton Runz aus Düsseldorf äussert sich zur Digitalisierung und europäischen Integration: Er beklagt, dass diese Themen im Wahlkampf fast gar keine Rolle spielten. Runz erklärt später seine Motive mitzumachen: Er interessiere sich für geschichtliche Zusammenhänge, doch wie die meisten Jugendlichen schaue er kaum noch klassisches Fernsehen. «Deswegen finde ich das Internet-Format eine super Sache, das spricht die Jungen an.»

Auch aus der Schweiz wird der Beitrag eines Publikumsvertreters eingespielt. Der pensionierte Geschichtslehrer und PH-Dozent Hans Utz beschreibt, welche Rolle die Geschichte bei den National- und Ständeratswahlen 2015 gespielt habe. Gewisse Parteien hätten alte Schweizer Mythen beschwört, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Die Runde im Studio nimmt den Ball auf: Das Beispiel zeige, dass Geschichte ein «gefährliches» Fach sei, und dass gerade die Schule sehr sorgfältig mit Geschichtsbildern umgehen müsse. «Die Rechte hat ihre Narrative – was haben die anderen?», fragt Eva Schlotheuber rhetorisch. Die demokratische Kunst bestehe darin, aus Geschichte einen Dialog zu machen.

Hans Utz sagt nach der Sendung, der Geschichtstalk im Super 7000 habe ihn sehr angesprochen. «Für mich liegt es auf der Hand, dass neben dem akademischen Diskurs, der reichlich abgeschottet an den Universitäten oder bestenfalls in der gehobenen Presse stattfindet, und den allzu populären Fernsehformaten, die Geschichte vor allem als Unterhaltung präsentieren, für Geschichtsinteressierte noch etwas Drittes dazwischen existieren muss. Und dieses Dazwischen bedient der Talk im Internet sehr gut.»

Herausforderungen für den Geschichtsunterricht

In Düsseldorf kommt die Viererrunde zum Schluss, dass es für ein differenziertes Geschichtsbild heutzutage vor allem an etwas mangle: an Erzählungen. «Kaum ein Geschichtslehrer kann mehr Geschichten erzählen, keiner hat den Überblick, kann den grossen Bogen schlagen», stellt Mark Demantowsky fest. Historische Bildung beinhalte genau dieses Erzählen, allerdings nie aus lediglich einer Perspektive, sondern in der Bündelung mehrerer Erzählstränge.

Als der Sand durchs Stundenglas gerieselt ist, die 60 Minuten um sind, bemerkt Moderator Georgios Chatzoudis, dass er das geplante Einholen von Aussenstimmen glatt versäumt hat. «Wir holen es nach – mit dem Blog, auf Facebook, in den Kommentaren», verspricht er. Es sei nicht die einzige Panne gewesen, erzählt er später: Ein Defekt am Audio-Mischpult führte zu technischen Schnitzern während der Sendung. Doch mit der Diskussion seien sie sehr zufrieden gewesen: «Wir konnten zeigen, dass Geschichte in der Gegenwart immer eine Rolle spielt», resümiert er. Im nächsten Geschichtstalk am 26. Oktober wollen sie diesen Mechanismus anhand von TV-Serien analysieren. «Game of Thrones» oder «House of Cards» als Schlüssel zu Geschichtsthemen – das dürfte die Jungen scharenweise vor den Laptop locken.
- Irène Dietschi -

Talkshow und Lehrpersonenbildung

Prof. Dr. Marko Demantowsky, Didaktik der Gesellschaftswissenschaften und ihre Disziplinen, Pädagogische Hochschule FHNW

Wenn sich eine Pädagogische Hochschule mit einer renommierten Wissenschaftsstiftung wie der Gerda Henkel Stiftung, zusammentut, um gemeinsam eine Talkshow zu historisch-politischen Themen zu erarbeiten, zu produzieren und ihre Reichweite und Wirkung zu erforschen, dann erweckt das zunächst, wie ich erfahren habe, eine Reihe von interessierten und auch kritischen Fragen.
Dabei spiegeln sich an der Sendung die Kernaufgaben der Pädagogischen Hochschule FHNW: Ausbildung, Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Dienstleistungen. Das Projekt ist nicht nur für angehende und amtierende Lehrpersonen hilfreich, sondern ist auch für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich. Es lässt sich bereits sagen, dass unsere erste Sendung vom 14.9. schon jetzt in den Lehrveranstaltungen der PH FHNW, der Universität Basel, aber auch der Universitäten Bremen und Bochum in der Lehrpersonenausbildung eingesetzt wird und Tausende ZuschauerInnen haben die Sendung verfolgt.

Crossmedial und diskutierbar

Die hochschuldidaktischen Vorteile liegen auf der Hand: Komplexe Themen werden von anerkannten Fachleuten multiperspektivisch, kontrovers und interaktiv zugänglich gemacht. Dies stellt ein motivierende Alternative zu den gängigen Medien und Formaten der Hochschullehre dar, die den wesentlichen lernpsychologischen Anforderungen an zeitgemässe Lehrpersonenausbildung gerecht wird. Besonders durch ihre dauerhafte Diskutierbarkeit in ihrer crossmedialen Formatierung (Weblog, Twitter, Facebook, Instagram) verbinden die einzelnen thematischen Sendungen engagierte Studierende und ihre Perspektiven weit über die Grenzen ihrer eigenen Lehrveranstaltung hinaus.

Die fachspezifische effektive Weiterbildung von Lehrpersonen aller Schulstufen, aber besonders auch der Gymnasiallehrpersonen ist seit vielen Jahren ein Anliegen aller für die Lehrerbildung Verantwortlichen. Man weiss aus zahlreichen Studien, dass für eine dauerhafte gute Arbeit von Lehrpersonen regelmässige gute Weiterbildungen ein wichtiger Faktor sind, gleichzeitig werden Weiterbildungsangebote von vielen Lehrpersonen oft nur zögerlich angenommen. Die Gründe dafür sind gewiss vielfältig, sicher gehört aber zu den Gründen, dass es gerade für jüngere Lehrpersonen grundsätzlich schwierig ist, allen Verpflichtungen des Berufs- und Privatlebens gerecht zu werden, zusätzliche Termine, gar mit Reiseaufwand sind im Alltag für viele schwierig. An dieser Stelle setzt das Projekt des Geschichtstalks an (ähnlich übrigens wie sein Schwesterprojekt Public History Weekly): Frei nutzbare, niedrigschwellige, ja unterhaltsame Inhalte aktueller wissenschaftlicher Reflexion und Forschung individuell dann zur Verfügung zu bringen, wenn man sie im Alltag nutzen kann und damit arbeiten will und im selbstbestimmten Rhythmus: Open Access und digital.

Forschung und Entwicklung bilden ein zentrales Element des Projekts, denn es sollen nicht nur vielversprechende interaktive digitale Formate der Aus- und Weiterbildung produziert werden, sondern es soll beginnend in der Erprobungsphase auch herausgefunden werden, was, wie und bei wem wirklich funktioniert. Dazu wird qualitative und quantitative Sozialforschung mit technikbasierter Digitalforschung kombiniert. Wir versuchen also nicht nur etwas, von dem wir aus mehr oder minder guten Gründen überzeugt sind, wir wollen nach einem Jahr auch evidenzbasiert Rechenschaft ablegen können.

Letztlich können wir über Erfolg und Misserfolg des Konzepts aber nur entscheiden, wenn die Menschen, für die wir dieses Angebot hauptsächlich erstellen, praktizierende und angehende Lehrpersonen, darauf auch aufmerksam werden und es ausprobieren. Gelegenheit dazu gibt es wieder live am 26.10.2017, 20 Uhr auf YouTube und anderen Kanälen. 

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