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29.3.2018 | Pädagogische Hochschule

«Soziale Herkunft, eine schwer zu knackende Grösse»

Margrit Stamm hielt anlässlich des Hochschultags der PH ein Referat zum Thema Chancengerechtigkeit. Die emeritierte Professorin äussert sich im Interview dazu, wie die soziale Herkunft den Schulerfolg bedingt und wie Kinder aus benachteiligten Milieus besser gefördert werden können.

Warum ist die soziale Herkunft heute immer noch entscheidend, wenn es um Bildungserfolg geht?
Margrit Stamm: Der stärkste Faktor ist, dass die Eltern ihr gesamtes Konglomerat an ökologischen, kulturellen und sozialen Ressourcen ihren Kindern mitgeben. Darum ist die soziale Herkunft, wenn es um Chancengerechtigkeit in der Bildung geht, eine schwer zu knackende Grösse. Was aber nicht unmöglich ist, wie beispielsweise Finnland zeigt. Dort wurde das gesamte Bildungssystem dahingehend umgestaltet, dass die soziale Herkunft eine viel geringere Rolle spielt, als in der Schweiz. Was bei uns wie ein Naturgesetz aussieht, ist in andern Ländern durch umfassende Reformen abgefangen worden.

Die Schweiz stellt verschiedene Bemühungen an, die Durchlässigkeit zu erhöhen. Offenbar nicht genug?
In der Tat haben wir eines der besten Bildungssysteme in Bezug auf formale Durchlässigkeit. Sie funktioniert aber nicht so wie erwünscht. Das Problem ist, dass sich die Leistungsschere bereits im Vorschulalter öffnet. Meine These ist, dass sich diese durch die frühkindliche Förderung vergrössern kann, weil das bildungsnahe Milieu viel in sie investiert und den Kindern einen Vorsprung beim Schulstart ermöglicht. Das andere Problem ist das selektive Schulsystem, das bereits nach der Primarstufe eine erste Selektion vornimmt und so diese Effekte der sozialen Herkunft verstärkt. Skandinavische Länder selektionieren erst viel später, nach der obligatorischen Schulzeit. Es ist diese frühe Selektion, die die Durchlässigkeit hemmt.

Bei Selektionsentscheiden können die Eltern auch mitsprechen. Zeigt diese Tatsache eine gewünschte Wirkung?
Nein, sie bekräftigen die Prozeduren der Ungerechtigkeit sogar! Maaz, Baeriswyl und Trautwein haben in einer Studie herausgefunden, dass Arbeitereltern, deren Kinder keine Empfehlung fürs Gymnasium erhielten, sich damit zufriedengaben und die Einschätzung der Lehrperson als richtig empfunden haben, obwohl ihre Kinder sehr geeignet fürs Gymnasium gewesen wären. Diese Eltern folgen eher den Empfehlungen der Lehrperson, während gut situierte Eltern rekursfreudiger sind.

Die Erwartungshaltung der Lehrperson spielt also eine entscheidende Rolle. Wie kommt die Zustande?
Die heutige öffentliche Schule orientiert sich tendenziell an der Mittelschicht. Viele Lehrpersonen stammen selbst aus der Mittelschicht und haben das typische Mittelschichtkind als Idealkind vor Augen, welches gut erzogen ist, nicht stört und gepflegt ist. Das erzeugt Erwartungshaltungen. Kinder mit Migrationshintergrund oder aus ärmeren Verhältnissen kontrastieren mit diesem Idealbild. Aufgrund ihrer Erziehung schauen sie den Lehrpersonen vielleicht nicht in die Augen, haben andere Sitten, kurz, sie entsprechen nicht der Mittelschichtsnorm. Dann trauen ihnen Lehrpersonen vielleicht eher weniger zu, während auf der anderen Seite die Konformität der Gut-Situierten die Erwartungshaltung begünstigt. Doch es gibt auch gute Beispiele von Lehrpersonen und Schulen, welche diese Herausforderung und die Chancengerechtigkeit erfolgreich anpacken.

In diesem Zusammenhang problematisieren Sie auch Hausaufgaben...
Das ist eine grosse Kontroverse (lacht). Heute sind die Hausaufgaben zu einer Art Statusmeldung der Eltern an die Lehrperson geworden. Teilweise schreiben die Eltern ja die Hausaufgaben der Kinder. Deswegen wissen die Lehrpersonen auch nicht, ob Kinder den Stoff wirklich begriffen haben, wenn die Hefte stets tadellos zurückkommen.

Gibt es Lösungsansätze gegen die angesprochenen Dilemmata?
Ein paar kleine Reförmchen können diese Dilemmata sicher nicht beheben. Zuerst gilt es ein Bewusstsein für die strukturelle Ungerechtigkeit zu entwickeln. Man soll nicht einfach das Wort Chancengleichheit ständig in den Mund nehmen, sondern erkennen, dass in der Schweiz punkto Bildungsgerechtigkeit noch einiges an Nachholbedarf besteht. Frühe Förderung sollte für benachteiligte Kinder systematisiert und ohne Hürden zugänglich gemacht werden. Lehrpersonen, die an ihren Haltungen arbeiten, fördern Kinder ungeachtet ihres familiären Hintergrunds und verhelfen gerade Kindern aus sozial schwächeren Milieus zu mehr subjektiver Erfolgsvertrautheit. Ich nenne das «die Kultur des positiven Blicks». Das sind meines Erachtens die grundlegendsten Massnahmen, die in der Breite diskutiert werden sollten und auf denen aufgebaut werden kann. 

02_MargritStamm_MarcoZanoni.jpgProf. Dr. Margrit Stamm war bis 2012 Lehrstuhlinhaberin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg (CH). 2013 hat sie das Forschungsinstitut Swiss Education gegründet. Sie ist Gastprofessorin an diversen Universitäten im In- und Ausland sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten von nationalen und internationalen Organisationen. Im März 2018 wurde sie mit dem internationalen Doron-Preis geehrt. Margrit Stamm forscht u.a. zu Themen wie Frühkindliche Bildung und Familie, Begabungsförderung und Chancengerechtigkeit. Sie war zu Gast am Hochschultag der Pädagogischen Hochschule, an dem verschiedene Expertinnen und Experten Referate und Workshops zu den Themenfeldern «Digitaler Wandel», «Chancengerechtigkeit und Teilhabe» und «Herausforderungen der Demokratie» hielten.

(Bild: Marco Zanoni, Interview: Michael Hunziker)

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