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8.4.2020 | Pädagogische Hochschule

Distance Learning verändert den Blick auf den Lehrberuf

Geschlossene Schulen, Kinder und Jugendliche, die ausschliesslich zuhause lernen: Das Coronavirus liess eintreten, was die meisten vor zwei Monaten für unmöglich hielten. Doch wie soll man die aktuelle Lernform eigentlich bezeichnen? Vor welche Herausforderungen stellt sie die Eltern und die Lehrpersonen? Und wie verändert sie allenfalls gar den Blick auf die Rolle der Lehrpersonen?

tl.jpegHome Schooling wie man nun vielerorts hört, sei die aktuelle Form des Lernens sicher nicht, sagt Prof. Dr. Tobias Leonhard, Leiter der Professur für Berufspraktische Studien und Professionalisierung am Institut Kindergarten-/Unterstufe der Pädagogischen Hochschule der FHNW. Denn: «Home Schooling machen die Eltern freiwillig.» Vermutlich treffe deshalb der Begriff des Distance Learnings am ehesten zu. «Er macht zugleich darauf aufmerksam, dass Lernen auf Distanz besonders voraussetzungsreich ist».


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Prof. Dr. Kathleen Philipp, Leiterin der Professur Mathematikdidaktik und ihre Disziplinen am Institut Primarstufe der Pädagogischen Hochschule FHNW, wählt für das derzeitige Lernen zuhause eine Umschreibung: «Die Lehrpersonen stellen den Schülerinnen und Schülern Materialien zur Verfügung, mit denen sie zuhause selbstständig lernen können. Die Interaktionen mit den Lernenden und der Lernenden untereinander, wie sie in der Schule stattfinden, ist in dieser Form nicht möglich. Ich würde es daher auch nicht als Unterricht bezeichnen.»

Grosse Bedeutung von Schul- und Bildungssystem

Dies stellt alle Beteiligten vor grosse und zumeist auch neue Herausforderungen. «Viele Eltern merken zunächst, dass eine immer wieder für selbstverständlich gehaltene Funktion der Schule enorm bedeutsam ist», sagt Tobias Leonhard. Dass die Kinder in der Schule «versorgt und beaufsichtigt» sind, ist dabei nur ein Aspekt. «Denkt man weiter, geht es darum sich nun mit der Vielfalt der Inhalte so vertieft und ‘kompetent’ auseinanderzusetzen, dass sie dann auch ‘gelehrt’ werden können.» Dabei würden Eltern wohl auch feststellen, dass dieser Anspruch nicht immer ohne Widerstand und Widerspruch umgesetzt werden kann, so Leonhard. «Eine Perspektive auf Schule und Unterricht, die ja normalerweise an die Lehrpersonen delegiert und als selbstverständlich angenommen wird.»

Die aktuellen Herausforderungen machten auch eine wichtige Rolle der Lehrpersonen sichtbar, so Leonhard weiter. «Die Lehrpersonen zeigen, was es zu lernen gibt und wie es am besten gelernt werden könnte. Es ist in den vergangenen Jahren mit der Idee von Coaching oder Lernbegleitung ziemlich in den Hintergrund gerückt, dass es auch jemanden braucht der etwas kann, um es dann der nachwachsenden Generation zeigen zu können.» Insgesamt mache die aktuelle Krise darauf aufmerksam, wie bedeutend das Schul- bzw. Bildungssystem ist. «Ich hoffe, dass sich dies in wieder ruhigeren Zeiten in der Anerkennung für den Beruf der Lehrpersonen widerspiegelt.»

Eltern nicht überfordern

Die Eltern seien in der Regel keine Lehrpersonen und könnten zuhause keinen Ersatz-Unterricht bieten, betont Kathleen Philipp. Zudem müssten viele Eltern im Homeoffice arbeiten. «Es ist also eine grosse Herausforderung für die Lehrpersonen, die Lernmaterialien so zusammenzustellen, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst selbstständig damit arbeiten können und sie die Unterstützung der Eltern nicht überfordern.» Abhängig ist dies vom Alter der Schülerinnen und Schüler. «In der Primarschule sind die Möglichkeiten hier begrenzt, die Kommunikation und der Austausch von Materialien können hier nur per Post oder per Mail mit den Eltern erfolgen.

In höheren Schulstufen können manchmal digitale Lernplattformen genutzt werden, wenn die Schülerinnen und Schüler mit den zugehörigen Arbeitsformen vertraut sind», so Philipp. Inwiefern dabei beispielweise neue Unterrichtsinhalte selbstständig erarbeitet werden können, sei stark abhängig vom Alter, den gewohnten Arbeitsweisen und auch vom Schulfach. Es gehe in der aktuellen Notsituation aber in erster Linie darum, dass die Schülerinnen und Schüler zuhause weiterlernen können.

Grundsätzlich biete das Leben nach Corona viele Chancen allfällig Versäumtes wieder aufzuholen, sagt Tobias Leonhard angesprochen auf mögliche negative Auswirkungen des aktuellen Distance Learning. Trotz aller Anstrengungen und Bemühungen bestehe jedoch die Gefahr, «dass vor allem Kinder aus den sogenannt ‘bildungsfernen’ Elternhäusern in der momentanen Situation Gefahr laufen weiter ins Hintertreffen zu geraten». Denn: «In vielen Familien dürften Sorgen zum Beispiel um den Erhalt der Arbeitsplätze, die Fragen der Bildung leider nachrangig erscheinen lassen. Für Kinder, die kurz vor Übergangsentscheidungen stehen, erhöht sich unter diesen Umständen das Risiko für einen ‘Knick’ in der Bildungslaufbahn», so Leonhard.

Das Gespräch mit Kathleen Philipp und Tobias Leonhard führten Christian Irgl und Marc Fischer.



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