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Mitreden, mitbestimmen, Demokratie lernen

Wie sich Partizipation im Unterricht gestalten lässt, zeigt ein Projekt der PH FHNW.

12.12.2019 | Pädagogische Hochschule

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Der Klassenrat tagt: Die Schülerinnen von Conny Isenegger können über das eigene Lernen mitbestimmen. Foto: Matthias Dietiker.

9 Uhr morgens im Schulhaus Weissenstein in Würenlingen, im Klassenzimmer von Lehrerin Conny Isenegger. Die 3b hält Klassenrat. Vorne steht der Tisch mit jenen vier Kindern, die an diesem Tag den Vorsitz übernehmen – als Ratsleiterin, Zeitnehmer, Schreiberin und Regelwächter. Ihnen gegenüber sitzen die übrigen Drittklässler im Halbkreis.
Die Ratsleiterin eröffnet die Sitzung mit dem ersten Traktandum: Reihum sollen die Schülerinnen und Schüler in maximal 30 Sekunden erzählen, was sie in der vergangenen Woche erlebt haben. «Ich habe mich gefreut, dass ich zu einer Geburtstagsparty eingeladen war.» «Ich habe mit meiner Freundin im Kino einen tollen Film gesehen.» «Am Donnerstag ist mein Cousin zur Welt gekommen.» Die Runde ist schnell gemacht, dann führt die Ratsleiterin – diskret ermutigt von Conny Isenegger – den nächsten Punkt ein: «Wir müssen darüber diskutieren, wie wir das Platzproblem mit unseren Schultheks im Klassenzimmer lösen: Wer hat einen Vorschlag?»

30 Jahre UNO-Kinderrechte

Der Klassenrat ist eine spezifische Form, um die sogenannte Partizipation von Schülerinnen und Schülern im Unterricht aktiv zu fördern. «Spezifisch» bedeutet: «Die Regeln und Rollen der Schülerinnen und Schüler sind im Klassenrat festgelegt», sagt Katja Maischatz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Maischatz ist am Forschungsprojekt «Partizipation im Unterricht der Primarstufe» der Hochschule beteiligt (s. Fachbeitrag). Die PH-Forscherinnen haben Schulklassen während eines Schuljahres begleitet, für Lehrkräfte bieten sie Weiterbildungen zur Partizipationsförderung im Unterricht an.
Was bedeutet «Partizipation» überhaupt, und warum spielt sie an Schulen eine Rolle? Hintergrund ist das aus dem Jahre 1989 stammende «Übereinkommen über die Rechte des Kindes» der Vereinten Nationen, kurz: die UNO-Kinderrechtskonvention, die heuer ihr 30-jähriges Bestehen feiert. In der Schweiz ist das Übereinkommen seit 1997 in Kraft.
Artikel 12 und Artikel 13 der Kinderrechtskonvention halten fest: «Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäusserung.» Was sich daraus für den Unterricht und die Lehrperson ergibt, erläutert Wissenschaftlerin Katja Maischatz so: «Es geht prinzipiell darum, Kindern etwas zuzutrauen, ihnen wertschätzend zu begegnen und ihre aktive Teilhabe zu fördern.» Die Partizipationsfähigkeit des Kindes stehe dabei nicht zur Debatte, das heisst: «Das Kind muss nicht vorab ‚beweisen’, dass es fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Vielmehr steht die Lehrperson in der Pflicht, Räume zu öffnen, damit die Kinder diese Fähigkeiten immer wieder und vielfältig üben können.»

Themen mitbestimmen

Wie zum Beispiel im Klassenzimmer von Conny Isenegger, wo der Klassenrat inzwischen bei Traktandum 4 angelangt ist. Hier geht es um die Frage: Sollen im Natur-Mensch-Gesellschaft-Unterricht (früher: Realien) in den nächsten Wochen die Kontinente drankommen, oder wollen die Drittklässler lieber die Planeten lernen? Beide Themen sind gemäss Lehrplan 21 möglich. Ein paar Kinder wissen nicht, was Kontinente sind, auch die Klassenratsleiterin ist überfragt. Also übernimmt Conny Isenegger kurzerhand die Regie und erklärt anhand eines Globus’ die Grundzüge der landbedeckten Erdoberfläche. Schliesslich wird abgestimmt: Neun Kinder stimmen für, zwölf Kinder gegen das Thema. Also vorläufig keine Kontinente in der Realien-Stunde. «Wenn ihr wollt, kann ich euch ja ein Blatt vorbereiten», raunt die Lehrerin den Ja-Stimmenden zu.
Über die Themenwahl das eigene Lernen mitzubestimmen ist nur eine Möglichkeit, im Unterricht zu partizipieren. Auch in anderen Bereichen können und sollen Schülerinnen und Schüler mitreden: beim Festlegen von Klassenregeln, der Bereinigung von Konflikten oder der freien Wahl von Hausaufgaben. Mit der freien Meinungsäusserung allerdings tun sich Primarschulkinder eher schwer, wie die PH-Forscherinnen herausfanden. Nur 30 Prozent der befragten Kinder getrauten sich zu Beginn des Projekts, der Lehrperson die eigene Meinung zu sagen. «Viele fürchteten, damit die Beziehung zur Lehrperson aufs Spiel zu setzen», erläutert Katja Maischatz. Im Lauf des Projekts sei der Wert dann immerhin auf 50 Prozent angestiegen.

Meinungen, die genauso zählen

Doch was «macht» es mit den Lehrpersonen, wenn Kinder vermehrt mitreden? Das PH-Team stellte in seinen Befragungen fest, dass das «Loslassen» der Kontrolle für manche gar nicht so einfach ist. «Den Mut zu haben, einfach die Schülerinnen machen zu lassen, mit dem Vertrauen, dass es schon gut kommt – das finde ich am schwierigsten», sagte eine Lehrperson im Interview. Eine andere: «Von Richtig und Falsch muss man sich mit Partizipation lösen. Dann gibt es nicht das, was der Lehrer will und richtig findet, sondern der Lehrer muss halt akzeptieren, dass es noch andere Meinungen gibt, die genauso zählen.»
Für Conny Isenegger ist das kein Problem. «Ich habe schon seit meinen Anfängen partizipativ unterrichtet, seit ich es damals bei einem Mentor abgeschaut habe, der das fantastisch machte und mich angesteckt hat», erzählt die routinierte Lehrerin. Klar sei mit Partizipation die «Macht» der Lehrperson beschnitten, zumindest von aussen besehen. Doch für sie zählt etwas Anderes: «Partizipation erzeugt immer auch Motivation», sagt sie. Zwar nicht bei restlos allen, aber: «Diejenigen, die sich einbringen und merken, dass sie etwas verändern oder mitbestimmen können, diese Schüler sind motivierter und später auch in anderen Klassen und Kontexten federführend.» Selbst bei den «ungeliebten» Matheblättern funktioniere das: Wer zwischen dem roten oder grünen Blatt entscheiden kann, hat selbst gewählt – und stöhnt nicht, dass er es machen muss.
Conny Isenegger ist deshalb überzeugt: «Die ‚freie’ Wahl, und dass sie sich am Prozess beteiligen müssen, erleichtert den Schülerinnen und Schülern, die Arbeit anzupacken.»

- Irène Dietschi -

Partizipation im Unterricht – eine Frage der Haltung

Prof. Dr. Elke Hildebrandt, Leiterin der Professur Unterrichts- und Schulkulturen an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Kinder können in vielen Familien mitreden oder mitentscheiden, also partizipieren. Im Kindergarten können sie dies vor allem in den Freispielphasen. Aber gerade Schule und Unterricht erleben sie in der Regel als wenig partizipativ. Dabei ist das Recht auf Partizipation in der Kinderrechtskonvention verankert. Daraus erwächst für die Schule die Pflicht, Partizipation zu fördern, zumal auch Partizipation gelernt sein will. Dies kann nicht nur im Rahmen quasi politischer Beteiligungsprozesse wie dem Klassenrat oder der Schulversammlung geschehen, sondern auch im alltäglichen Unterricht.

Das Projekt «Partizipation im Unterricht»

Hier setzt das seit 2017 von der Stiftung Mercator Schweiz geförderte Projekt „Partizipation im Unterricht der Primarstufe (PaU)“ an. Es geht der Frage nach, wie die Partizipation von Schülerinnen und Schülern im Unterricht der Primarstufe in deutschsprachigen Kantonen der Schweiz gefördert wird. Auf der Ebene relevanter Dokumente des Bildungsraums Nordwestschweiz zeigt sich: In Gesetzen, Lehrplänen, Arbeitshilfen etc. wird das Partizipationsrecht nur punktuell anwendungsbezogen für die Zielstufe thematisiert. Allein die Stadt Zürich widmet sich in ihrem «Praxisleitfaden Partizipation» den unterrichtlichen Partizipationsmöglichkeiten.
Im PaU-Projekt wurden sieben Lehrpersonen mit ihren Schulklassen über ein Schuljahr hinweg wissenschaftlich begleitet. Es wurden mehrere Interviews, Befragungen mit den Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern durchgeführt sowie Unterrichtssituationen gefilmt. Auf diese Weise können u.a. praktische Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie Lehrpersonen Partizipation in ihrem Unterricht ermöglichen und fördern. Diese Erkenntnisse fliessen in das Studium angehender Lehrpersonen ein – auch in der Weise, dass die Studierenden in den Seminaren verschiedene Möglichkeiten der Partizipation wahrnehmen können.

Partizipation beginnt in den Köpfen

Partizipationsförderung beginnt in den Köpfen der Erwachsenen: Sie sehen die Kinder als grundsätzlich partizipationsfähig und -berechtigt an, nehmen ihre Meinungen ernst und kommunizieren entsprechend wertschätzend mit ihnen. Gleichwohl zeigen sie den Kindern aber auch mögliche Folgen ihrer Interessen bzw. ihres Handelns auf, womit sie auch dem Recht der Kinder auf angemessene Information nachkommen. Partizipationsfördernde Lehrpersonen fordern verstärkt Selbstständigkeit der Schüler und Schülerinnen, geben Raum für Mitbestimmung, z.B. bei den Hausaufgaben oder auch bei der Wahl von Unterrichtsthemen oder -methoden. Dabei ist es wichtig, den Kindern gegenüber transparent aufzuzeigen, wo tatsächlich Mitbestimmung erfolgen kann und wo diese nur begrenzt möglich ist, etwa weil der Lehrplan gewisse Anforderungen definiert oder räumliche Gegebenheiten Beschränkungen auferlegen. Sonst entsteht bei den Schülerinnen und Schülern der Eindruck, dass sie nur «pro forma» partizipieren dürfen und ihre Ideen eigentlich nicht erwünscht sind. Diese «Scheinpartizipation» ist unbedingt zu vermeiden.

Ziele von Partizipation

Ein derart ausgerichtetes partizipativ-pädagogisches Handeln ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren, ihre Meinung begründet zu vertreten, aber auch die Meinungen, Interessen und Bedürfnisse anderer zu respektieren und Konflikte auszuhandeln.
In einem partizipationsfördernden Unterricht übernehmen die Kinder zunehmend Verantwortung für ihr eigenes Lernen und Handeln, aber auch für die Gemeinschaft. Auf diese Weise können sie den Unterricht mitgestalten. Dies kann zu einer höheren Motivation und Leistungsbereitschaft sowie zu einer insgesamt stärkeren Identifikation mit dem eigenen Bildungsprozess führen.




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