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12.10.2020 | Pädagogische Hochschule

Politik ist kein Spiel – oder etwa doch?

Politische Bildung soll verstärkt durch praktische Erfahrungen vermittelt werden. Der Verein «Schulen nach Bern» macht’s möglich.

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Nationalratssaal: Eine Bez-Klasse aus Wohlen machte 2019 bei «SpielPolitik!» mit. Bild: zvg

In der Bundesverfassung, Art.89, Abs.6 steht: «Neubauten sind mit Fotovoltaikanlagen zur Selbstversorgung auszurüsten.» – Tatsächlich? In Tat und Wahrheit hat der Verfassungsartikel über die Energiepolitik aktuell nur fünf Absätze. Trotzdem ist die im November 2019 beschlossene Verfassungsänderung keine Falschmeldung – zumindest nicht für die damalige Klasse 3a der Bezirksschule Wohlen AG im Rahmen der jährlich stattfindenden Projekttage «SpielPolitik!».

Dieses Angebot für 8. und 9. Klassen der Volksschule soll Jugendliche befähigen, mit eigenen politischen Anliegen an der direktdemokratischen Auseinandersetzung möglichst realitätsnah teilzuhaben. Der Nationalrat hat jüngst einen Vorstoss für die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre gutgeheissen. Bis es so weit ist, können 15- und 16-jährige Schülerinnen und Schüler mit dem Planspiel schon mal üben.

Bei «SpielPolitik!» ist alles (fast) wie echt

Das Spiel besteht darin, dass verschiedene Schulklassen Initiativen lancieren und damit in Bern gegeneinander antreten. Die politische Debatte findet im Bundeshaus statt. Und auch sonst ist alles (fast) wie echt: Die Schülerinnen und Schüler schlüpfen in die Rolle von Nationalrätinnen und Nationalräten. Vier Klassen bilden je eine Fraktion, in klassengemischten Kommissionen werden die Anliegen vorberaten. Ein «Bundesrat» formuliert zu den Initiativen Gegenentwürfe, die notabene aus der Feder von echten Fachleuten der Bundesverwaltung stammen. Und auch in der Ratsdebatte sind es echte Nationalrätinnen und Nationalräte oder ehemalige Parlamentsmitglieder, die der Exekutive ein Gesicht geben.

Träger von «SpielPolitik!» ist seit 2008 der Verein «Schulen nach Bern». Für die Organisation und die Spielleitung der Politiksimulation ist das Forschungszentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule FHNW zuständig, das am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) angesiedelt ist (siehe Fachbeitrag unten). Hier werden die eingereichten Initiativen geprüft.

Viele motivierende Faktoren

Matthias Hehlen, der Deutsch- und Geschichtslehrer der Wohler Bez-Klasse, denkt gern an die «Session» in Bern zurück. Diese habe seine Schülerinnen und Schüler regelrecht begeistert: «Einmal schön gekleidet im altehrwürdigen Nationalratssaal zu sitzen, wo unsere Gesetze gemacht werden, ist schon etwas Besonderes.» Auch das Spiel selbst sei motivierend, sagt Hehlen: «Die Jugendlichen dürfen vieles selbst bestimmen. Sie spüren, dass sie ernst genommen werden. In der verbalen Auseinandersetzung können sie die Wirksamkeit ihrer Argumente testen. Und schliesslich schweisst ein solches Projekt, das man im Klassenverbund gemeinsam erarbeitet hat, enorm zusammen.»

Kommt hinzu, dass manche Klassen in Bern ein Rahmenprogramm absolvieren mit Stadtführung und Botschaftsbesuch. «Die zwei Tage waren ein Highlight des Schuljahrs», resümiert Hehlen, «auch wenn meine Schülerinnen und Schüler vor der Debatte zum Teil ziemlich nervös waren.» Kein Wunder, schliesslich ist das Politikspiel wie die richtigen Parlamentssitzungen öffentlich, und auf der Zuschauertribüne sassen neben dem Schulleiter einige Eltern. Nachdem er bereits zweimal am Spiel teilgenommen hat, möchte Hehlen sich für 2021 wieder bewerben.

Ein Gegenentwurf, der keiner ist

Einer, der kommenden November mit seiner Abschlussklasse nach Bern fährt, ist Flavio Muggli, Lehrer im thurgauischen Fischingen. Auch für ihn ist es nicht die erste Teilnahme an «SpielPolitik!». Schon vor den Sommerferien ging’s los mit den Vorbereitungen: Zuerst Staatskunde, zum Beispiel über den Unterschied zwischen Verfassungs- und Gesetzesstufe. Dann die basisdemokratische Wahl des konkreten Anliegens. Schliesslich sammelten die Schülerinnen und Schüler Unterschriften, denn eingereicht werden muss eine «Volksinitiative».

Dem Bund soll die Kompetenz erteilt werden, auf Dosen und Getränkeflaschen ein Pfand zu erheben. «Es wirkt ressourcensparend und hemmt die Klimaerwärmung», begründen die Jugendlichen ihre Initiative. Der Gegenentwurf ist bereits eingetroffen – und geht noch weiter als die Initiative: Der Bund soll die Pfandpflicht auf ähnliche Gebinde ausdehnen können.

Auch bei der Wohler Initiative kam der «Bundesrat» den Initiantinnen und Initianten entgegen, indem er Ausnahmen vom Solarpanel-Zwang auf Neubauten aus dem Initiativtext strich. «Es geht beim Politikspiel auch darum, zu merken, dass ein Gegenentwurf nicht unbedingt gegen die ursprüngliche Idee gerichtet sein muss», erklärt Matthias Hehlen. So drangen die jungen Wohlerinnen und Wohler mit ihrem Anliegen im Rat durch, obwohl sie mit der Initiative selbst unterlagen: Der Gegenentwurf, der ja ganz in ihrem Sinn war, fand eine Mehrheit.

Beide Oberstufenlehrer sind überzeugt, dass der Einblick in die Funktionsweise der nationalen Gesetzgebung das politische Interesse ihrer Schülerinnen und Schüler gestärkt hat. «Ich halte das Politikspiel für eine der besten Formen von Staatskundeunterricht », sagt Matthias Hehlen, «es ist praxisbezogen und kompetenzorientiert.» Somit passt «SpielPolitik!» in den Lehrplan 21, wo sich Vor- und Nachbereitung in den Fachbereich Räume, Zeiten, Gesellschaften – und im Kanton Aargau ins Fach Politische Bildung – integrieren lassen.

- Thomas Röthlin -

Politische Bildung ist mehr als klassische Staatskunde

Monika Waldis Weber, Leiterin Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der PH FHNW am Zentrum für Demokratie Aarau

Jüngst wurde im Nationalrat die Einführung von Stimmrechtsalter 16 auf die politische Agenda gesetzt. Die frühe Heranführung an politisches Handeln wie Wählen und Abstimmen soll Jugendlichen die Gelegenheit geben, ihre politische Sicht einzubringen und politische Kompetenzen aufzubauen. Junge Stimmberechtigte sind in der Schweiz bei Wahlen und Abstimmungen unterrepräsentiert. Ihre Partizipation zu stärken, ist ein wichtiges Ziel. Es gibt ein breites Spektrum politischer Partizipationsformen. Wie wir aus der Forschung wissen, bevorzugen gerade Jugendliche und junge Erwachsene themenspezifische, kurzfristige, informelle und individuelle Partizipationsgelegenheiten, die ihrem Lebensstil entsprechen und zum Teil mit Freizeitaktivitäten verbunden werden können. Dazu gehören unkonventionellere Formen wie die Schulstreiks für das Klima. Darüber hinaus sind Jugendliche auch im Internet unterwegs. Mit Klicks, Likes und Teilen bestimmen sie mit, ob ein gesellschaftliches Thema mediale Aufmerksamkeit erhält. So haben sie etwa kürzlich zu den Antirassismusprotesten beigetragen.

Mit oder ohne Stimmrechtsalter 16 sind Jugendliche immer wieder mit politischen Fragen konfrontiert und müssen sich entscheiden, ob und wie sie aktiv werden wollen. Das politische Handeln ist manchmal nur einen Klick entfernt. Entsprechend sind sie in ihren politischen Kompetenzen gefordert und manchmal auch überfordert. Sie brauchen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, um politische Fragen diskutieren zu können.

Politische Bildung fördert Kompetenzen und befähigt zur politischen Partizipation

Auf eine schulische politische Bildung hat die Schweiz bisher nur zögerlich gesetzt, im Vertrauen, das richte sich im Privaten schon. Aber die Gesellschaft ist vielfältiger geworden, und zur Art und Weise, wie wir uns informieren, ist ein grosser Umbruch in Gange.

Aus diesem Grund wurde im Lehrplan 21 politische Bildung als Kompetenzbereich in der Primarstufe im Fach «Natur, Mensch und Gesellschaft» und in der Oberstufe im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» aufgewertet undals überfachliches Lernziel eingeführt. Um den vielfältigen Ansprüchen gerecht zu werden, ist politische Bildung nun breiter gefasst als die klassische Staatskunde. An zentralen Themen und lebensweltlichen Fragestellungen sollen Schülerinnen und Schüler ihr Wissen zu politischen Institutionen und Prozessen ebenso erweitern wie ihre politischen Fähigkeiten, etwa sich zu informieren, zu argumentieren und zu urteilen. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit von Klassenräten und Schülerinnen- und Schülerparlamenten. Sie laden zur Mitsprache bei Themen ein, welche die Lernenden selbst betreffen. Wichtig ist dabei, dass der Entscheidungs- und Handlungsspielraum tatsächlich gegeben ist. Pseudopartizipation wird von Kindern und Jugendlichen schnell durchschaut.

Muss der Unterricht politisch neutral sein?

Derzeit werden von den Lehrpersonen im Bildungsraum Nordwestschweiz die Weiterbildungen zum Lehrplan 21, in denen auch politische Bildung ein Thema ist, gut besucht. Eine häufig gestellte Frage lautet dabei: Muss mein Unterricht politisch neutral sein? Hierzu hat die Fachdidaktik politische Bildung mit dem «Beutelsbacher Konsens» von 1976 eine einfache, aber hilfreiche Handlungsmaxime formuliert: Erstens dürfen Lehrpersonen die Schülerinnen und Schüler nicht mit der eigenen Meinung dominieren, sondern sollen sie in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung zu bilden. Zweitens muss das, was in Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht kontrovers abgebildet werden. Und drittens soll der Unterricht so gestaltet werden, dass Schülerinnen und Schüler ihre Interessen und Fragen am Thema erkennen und verfolgen können. Diese einfache Leitplanke macht Lehrpersonen in ihrem Handeln sicherer und trägt zu einer erfolgreichen Umsetzung der politischen Bildung bei.

Initiativen wie «SpielPolitik!» (vgl. Artikel oben), ein Kooperationsprojekt zwischen dem Verein «Schulen nach Bern» und der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, suchen die Zusammenarbeit mit Lehrpersonen mit dem Ziel, deren Bildungsaufgabe mit einem attraktiven Angebot zu stärken.


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