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11.10.2018 | Pädagogische Hochschule

Schreiben lernen ohne Regeln?

Wie lernen Kinder korrekt schreiben? Viele Missverständnisse sind im Umlauf.

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Afra Sturm, Sprachwissenschafterin, Co-Leiterin Zentrum Lesen, Medien, Schrift, Pädagogische Hochschule FHNW

Der Rechtschreibeunterricht an Schweizer Primarschulen steht im medialen Kreuzfeuer. Stein des Anstosses ist das lautgetreue Schreiben. Der Ansatz beruht auf dem Prinzip, dass ein Kind Wörter in den ersten Schuljahren so schreibt, wie es sie aufgrund ihrer Laute wahrnimmt. Die einen loben die Methode als fortschrittlich, die anderen sehen darin den Untergang der Rechtschreibung. Was hat es damit auf sich? Drei Expertinnen aus Wissenschaft und Schule geben Antwort.

Gemäss Lehrplan 21 sollen sich Kinder die Schriftsprache zunächst über das Gehör aneignen. Was bringt lautgetreues Schreiben?

Afra Sturm: Zunächst einmal gilt es, den Begriff zu klären. Lautgetreues Schreiben wird in unterschiedlichem Kontext verwendet. Einerseits bezeichnet es eine grundlegende Fähigkeit, Wortlaute herauszuhören und sie mit den passenden Buchstaben zu verschriftlichen. Im deutschen Schriftsystem, das auf Laut-Buchstaben-Beziehungen aufbaut, ist diese Kompetenz notwendig. Wenn andererseits Medien über lautgetreues Schreiben berichten, ist damit fast immer die Methode «Schreiben nach Gehör» gemeint.

Diese erntet viel Kritik. Deutschland hat «Schreiben nach Gehör» in einigen Bundesländern sogar verboten.

Sturm: Aus gutem Grund. «Schreiben nach Gehör» geht auf den Basler Reformpädagogen Jürgen Reichen zurück, der in Hamburg lehrte und den Rechtschreibunterricht in weiten Teilen Deutschlands prägte. Reichen ging davon aus, dass Kinder Lesen und Schreiben mithilfe einer sogenannten Anlauttabelle von allein lernten und systematischer Rechtschreibeunterricht deshalb überflüssig sei. Es gipfelte darin, dass einige Lehrpersonen nicht mehr korrigierten. Dass dies für viele Kinder nicht hilfreich ist, wissen wir aus der Forschung. Es hat aber nichts mit der Realität an Schweizer Schulen zu tun – das geht in der aktuellen Debatte leider unter.

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«Durch die passenden Arbeitsinstrumente sind Kinder heute viel früher in der Lage, Texte zu schreiben.»

Sabine Leuthard, Primarlehrerin Unterstufe, Deutschlehrmittel-Autorin

Schweizer Schulen arbeiten aber auch mit besagter Anlauttabelle.

Sabine Leuthard: Sie ist aber nur ein Hilfsmittel, darauf baut nicht der ganze Unterricht auf. Durch die passenden Arbeitsinstrumente sind Kinder heute viel früher in der Lage, Texte zu schreiben. Statt wie früher zuerst einzelne Buchstaben einzuüben, lernen sie anhand der gesprochenen Sprache, ein Wort in seine Laute zu zerlegen. Dabei hilft ihnen die Anlauttabelle, die jeden Laut mit dem passenden Bild versieht – «A» mit einem Affen oder «Eu» mit einer Eule, beispielsweise. Mithilfe der Tabelle können die Kinder die Laute den Buchstaben zuordnen und diese dann zu einem Wort aneinanderreihen.

Hierzulande sollen Lehrpersonen erst ab der dritten Klasse auf korrekte Schriftsprache pochen. Eltern befürchten, dass Kinder dann nicht mehr ablegen, was sie falsch gelernt haben.

Leuthard: Mit dieser Sorge werde ich oft konfrontiert, durch Aufklärung kann ich sie Eltern aber meist nehmen. Wir lassen das Kind nicht einfach machen, sondern holen es dort ab, wo es in seiner Entwicklung steht. Und wir korrigieren selbst in den unteren Stufen. Schreibt ein Erstklässler «schtehen» statt «stehen», greife ich nicht ein – das Kind hat alle Wortlaute herausgehört. In der zweiten Klasse kommen Regeln dazu, etwa solche zu Buchstabenkombinationen wie «Sp» oder «St» am Anfang eines Wortes. Dann lasse ich «schtehen» nicht mehr durchgehen.

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«Es ist nicht sinnvoll, Schüler mit Regeln zu konfrontieren, die sie noch nicht nachvollziehen können.»

Afra Sturm, Sprachwissenschaftlerin, Co-Leiterin Zentrum Lesen, Medien, Schrift, Pädagogische Hochschule FHNW

Was spricht dagegen, systematischen Rechtschreibunterricht früher einzuführen?

Sturm: Es ist nicht sinnvoll, Schüler mit Regeln zu konfrontieren, die sie aufgrund ihres Entwicklungsstands noch nicht nachvollziehen können. Schreibt ein Kind in der ersten Klasse «hbe» statt «habe», muss ich eingreifen, weil ein Laut nicht verschriftet wurde. Das kann ich dem Kind begreiflich machen. Fehlt bei «Hammer» hingegen ein «m», ist eine Korrektur nicht zielführend, weil das Kind sie nicht versteht – noch nicht. Kommen Regeln zu früh, begreifen die Kinder sie nicht. Statt Regeln anwenden und daraus korrekte Schriftweisen ableiten zu können, versuchen sie dann, Wörter auswendig zu lernen. Das funktioniert nicht lange.

Eliane Voser: Kinder, die mit dem Schreiben anfangen, sind glücklich, wenn sie merken, dass ihre Botschaft ankommt. Diese Freude gilt es zu erhalten. Beharren wir zu früh auf Regeln, verwirren wir das Kind und schüren Angst vor Fehlern. Das kann sich fatal auf die Motivation und den Lernerfolg auswirken.

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«Entscheide, die unser Bildungssystem betreffen, sollten sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen, nicht auf Hörensagen.»

Eliane Voser, Primarlehrerin Mittelstufe, Erziehungsrätin Kanton Aargau

Die Debatte wird wohl anhalten: In Nidwalden gipfelt sie darin, dass der Kanton lautgetreues Schreiben ab der zweiten Klasse verbieten will.

Voser: Ich befürworte jegliche Debatte, sei es am Stammtisch, in der Politik oder sonst wo. Entscheide, die unser Bildungssystem betreffen, sollten sich aber auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Praxiserfahrungen berufen, nicht auf Hörensagen. Der Glaubensstreit darüber, wie Kinder schreiben lernen sollen, passt für mich zum Zeitgeist.

Inwiefern?

Voser: Die Behauptung, dass es mit dem Grundlagenwissen der Schüler bergab geht, scheint im Trend zu liegen. Kinder und Jugendliche konnten früher offenbar alles besser, sei es Anstand, Rechnen oder Schreiben. Oft gibt es für derlei Diagnosen aber keine wissenschaftliche Evidenz.
Sturm: Das gilt auch für den «Befund», wonach Kinder heute schlechter schrieben als früher. Die Datenlage dazu ist alles andere als eindeutig. Wie dem auch sei: Das lautgetreue Schreiben ist ein Entwicklungsschritt, den jedes Kind durchläuft, ja sogar durchlaufen muss, wenn es in einer Gesellschaft lebt, die ein Schriftsystem mit einer Laut-Buchstaben-Beziehung pflegt. Das lautgetreue Schreiben können wir als Erwachsene weder verbieten noch beschleunigen – aber wir können Kinder in diesem Entwicklungsschritt mit einem guten Rechtschreibeunterricht unterstützen.

Der curriculare Aufbau der Rechtschreibung im Lehrplan 21

Prof. Dr. Claudia Schmellentin Brinz, Leiterin Professur Deutschdidaktik und ihre Disziplinen an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Der Lehrplan 21 berücksichtigt in allen Bereichen die Lernentwicklung, so auch in der Rechtschreibung: Entsprechend wird in der Aus- und Weiterbildung den Lehrpersonen vermittelt, wie sie Rechtschreibung systematisch lehren, wie sie den Schülern und Schülerinnen das Korrigieren ihrer Aufsätze beibringen und wie sie selbst lernförderlich mit Rechtschreibfehlern umgehen sollen.

Vom Kern zum Speziellen

Der Lehrplan 21 ist in allen Fächern spiralcurricular aufgebaut, das heisst, der Unterricht beginnt beim Einfachen und baut danach den Kompetenzerwerb systematisch und repetitiv vom Kern zum Speziellen aus – dies gilt auch für die Rechtschreibung.
Die deutsche Orthografie beruht in ihrem Kern auf der mehr oder weniger systematischen Beziehung von Lauten und Buchstaben. Diese Beziehung spielt daher für die erste Phase des Rechtschreiberwerbs eine zentrale Rolle. Daher fordert der Lehrplan für den sog. 1. Zyklus (Kindergarten bis 2. Klasse), dass alle Schüler/-innen die Laute in einem Wort sicher und mehr oder weniger korrekt verschriften. Dafür müssen sie ihr bereits während dem natürlichen Spracherwerb entwickeltes Sprachgehör fürs Schreiben schärfen.

Grundlegende Laut-Buchstaben-Beziehung

Die Forschung zeigt, dass der weitere Rechtschreiberwerb wesentlich davon abhängt, dass die grundlegenden Laut-Buchstaben-Beziehung erworben sind bzw. die Kinder die gesprochene Sprache genau wahrnehmen können – auch wenn dabei noch nicht alle Wörter im Sinne der amtlichen Orthografie korrekt geschrieben sind. Wenn aber diese Basis erworben ist, werden bereits im 1. Zyklus weitere Regeln wie die sp-/st-Regel (stinken statt schtinken) vermittelt und entsprechende Fehler korrigiert.
Im weiterführenden 2. Zyklus (3.–6. Klasse) muss dann das Rechtschreibwissen systematisch ausgebaut werden: So werden dann die f-/v-Regel (Feile, viele), die Wortstamm-Regel (Hände wegen Hand) die ie-Regel (Miete, Mitte) und weitere spezielle Laut-Buchstaben-Regeln bearbeitet. Dabei werden Ausnahmen von diesen Regeln lernpsychologisch begründet erst später behandelt. Denn zuerst muss eine Regel im Kern sicher beherrscht werden, bevor man sich um Details bzw. Ausnahmen kümmern kann. Da viele Rechtschreibregeln (leider) doch recht komplex sind, müssen sie bis in die Oberstufe (3. Zyklus) – und auch darüber hinaus – schrittweise ausgebaut und immer wieder repetiert werden: Denn der Erwerb einer weitgehend korrekten Orthografie braucht Zeit – je nach Regelbereich und -tiefe sogar bis ins Erwachsenenalter.

Ganzheitliche Förderung

Neben den Laut-Buchstaben-Regeln müssen dann auch die noch anspruchsvolleren Regeln zur Nomengrossschreibung und der Kommasetzung erworben werden. Auch hier erfolgt die Einführung in die Regeln und der Ausbau der Regel spiralcurricular bzw. folgt grammatischen sowie lern- und entwicklungspsychologischen Prinzipien.
Und schliesslich: Korrekte Texte entstehen nicht nur durch korrektes Verschriften. Beim Verschriften liegt der Fokus nämlich auf Inhaltlichem und nicht auf der Rechtschreibung. Daher soll gemäss Lehrplan 21 nicht nur das Regelwissen systematisch auf- und ausgebaut, sondern auch Korrekturstrategien vermittelt und geübt werden. Damit zielt er auf eine ganzheitliche Förderung der komplexen Rechtschreibkompetenzen.

In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Thomas Lindauer, Co-Leiter Zentrum Lesen, Medien, Schrift




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