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9.5.2022 | Pädagogische Hochschule

«Sprache bietet die besten Werkzeuge zur Konfliktvermeidung und zur Wiederherstellung von Beziehungen»

Thor Sawin ist Associate Professor am Middlebury Institute of International Studies at Monterey, USA. Er weilt als Fulbright Specialist vom 29. April bis zum 19. Mai 2022 an der PH FHNW am Institut Primarstufe und wirkt an Veranstaltungen von Natalie Nussli und Magalie Desgrippes mit. Im Gespräch führt Thor Sawin aus, wieso Linguistik und interkulturelle Kommunikation gerade heute wichtig sind.

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Vlnr.: Prof. Markus Markus Cslovjecsek (Projektmanager International Campus), Prof. Dr. Mirjam Egli Cuenat (Leiterin Professur Fremdsprachendidaktik und ihre Disziplinen), Dr. Natalie Nussli (Dozentin Englisch), Dr. Thor Sawin (Associate Professor am Middlebury Institute of International Studies at Monterey, USA), Prof. Dr. Guido McCombie (Direktor Pädagogische Hochschule FHNW)

Thor Sawin, können Sie kurz erklären, wieso Linguistik und interkulturelle Kommunikation gerade heute wichtig ist?
Fast alle Konflikte beginnen als Sprachprobleme. Und das zeigt sich auf vielfältige Weise. Beispielsweise in der Wahl der Terminologie. Begriffe wie «illegale Einwanderer» versus «neue Amerikaner» drängen uns auf subtile Weise zu einer bestimmten Denkweise. Die Wahl der Sprache, die von den meisten Menschen «verstanden» wird, macht es denjenigen, die bereits Einfluss haben, leichter, vollständig einbezogen zu werden und grenzt Menschen mit anderen Sprachkenntnissen oder anderen Auffassungen weiter aus. Eine Übersetzung ist nie genau: Sie lässt fast immer Informationen aus, die ursprünglich im Vordergrund standen, und hebt Inhalte hervor, die ursprünglich weniger bedeutend waren. «Harmlose» Witze entfalten eine Kraft, die zu Mobbing und Herabsetzungen führen können, die in extremis einen Boden für grausamere Handlungen vorbereiten. Die Rechtfertigungen für den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine zum Beispiel wurden mittels der russischen Sprache unternommen. Es war die Sprache – die Wahl des Vokabulars, das Erzählen von Geschichten, die Slogans –, die die Öffentlichkeit davon überzeugt hat, dass ein Konflikt nicht nur notwendig, sondern natürlich und sogar edel ist. Doch in der Sprache liegt auch eine grosse Hoffnung. Obwohl die Sprache Quelle und Mittel der meisten Konflikten ist, bietet sie uns auch die besten Werkzeuge zur Konfliktvermeidung und zur Wiederherstellung von Beziehungen. Beides sind wichtige Aufgaben in unserer Zeit der Missverständnisse und eines polarisierenden Sprachgebrauchs.

Welche Rolle spielen Lehrpersonen dabei?
Neben dem Elternhaus ist die Schule der Ort, an dem wir Verhaltensweisen, Denkweisen und Sprachgebrauch, auf die eine Gesellschaft Wert legt, beobachten, einüben und auch anwenden. Sicher, an Schulen erarbeiten wir unseren Wortschatz, lernen wir Fremdsprachen, aber die Lehrpersonen haben einen subtileren, aber ebenso mächtigen Einfluss auf unsere Sprache. Im Klassenzimmer erleben wir, wie Lehrpersonen «normalen» Sprachgebrauch vorleben, wir sehen, wie sie «erwünschten» Sprachgebrauch empfehlen, wir erleben, wie sie «unerwünschten» Sprachgebrauch verbieten.

Was kann eine Lehrperson bei Schüler*innen, die über einen grundlegenden Wortschatz verfügen, in diesem sprachsensiblen Kontext bewirken?
Zuerst: Es ist wichtig, begrenzte Sprachkenntnisse nicht mit geringer Intelligenz oder geringem Reflexionsvermögen gleichzusetzen, was man nur zu leicht unbewusst tut. Klarheit schafft ein freundliches Umfeld. Wir können für Klarheit sorgen, indem wir in jeder Klasse oder bei jedem Treffen ein paar grundlegende Fragen stellen. «Wer sind wir hier?» – eine Aktivität, bei der sich alle auf eine freie Weise vorstellen oder auf irgendeine Weise Kundtun, nicht nur mit Namen und Herkunft, sondern wer wir wirklich sind. Weitere Fragen wie «Wie geht es uns heute?», «Was machen wir heute?» oder «Wie werden wir es tun?» helfen ebenso ein klares Umfeld herzustellen. Zudem können wir einfache Sprache verwenden, ohne den Inhalt zu sehr zu vereinfachen. Bilder, Vokabelliste an der Wand, Übersetzungen von Schlüsselwörtern – all das hilft uns, ernsthafte Themen zu besprechen, auch wenn wir einfache Sprache verwenden. Die Lernenden könnten zum Beispiel eines von vier Bildern auswählen, die verschiedene Antworten auf ein Problem darstellen. Auch wenn die Lernenden ihre Meinungen und Argumente zu einem abstrakten Thema nicht vollumfänglich erklären können, können sie die Auswahl eines Bildes mit vorgegebenen Satzstrukturen begründen. Abstrakte Ideen können auch in Form von persönlichen Geschichten präsentiert und diskutiert werden, die Illustrationen verwenden und verschiedene Sprachen beinhalten. Beispiel: Anstatt abstrakt über den Umgang mit Trauer zu sprechen, was für Lernende mit eingeschränkter Sprachkompetenz schwierig ist, können sie eine kurze Geschichte in Comicform mit Bildern und einfachen direkten Zitaten lesen, in der verschiedene Geschichten von Menschen dargestellt werden, die Trauer erlebt haben, und was sie als nächstes tun. Dies schafft nicht nur Empathie, sondern gibt den Lernenden auch konkrete Beispiele, auf die sie sich beziehen können, um ihre eigenen komplexen Gedanken zu beschreiben.

Wie können Lehrpersonen langfristig und nachhaltig einen bewussten Umgang mit Sprache sicherstellen?
Wir sollten unsere Muttersprachen als Ressourcen betrachten, die wir pflegen und in denen wir wachsen wollen. Nicht nur, weil diese Sprachen für unsere persönliche Identität und unsere persönliche berufliche Zukunft wichtig sind, sondern weil sie auch eine enorme Ressource für unsere Städte und unser Land darstellen. Die Schweiz ist besser dran, wenn sie Einwohner*innen hat, die ihre Sprachkenntnisse in Albanisch, Dari oder Bosnisch auf einem professionellen Niveau halten und pflegen, anstatt diese Sprachen zu verlieren, um sich schneller «anzupassen». Wenn die Klasse und die Gesellschaft all diese Sprachen wertschätzt und als Bereicherung ansieht, wird es wahrscheinlich weniger Hänseleien und weniger Ausgrenzung von Schüler*innen geben, die aus Familien mit Migrationsgeschichte stammen. Wenn es um das Erlernen von Englisch, Deutsch oder Französisch geht, ist es wichtig, den Lernenden allmählich mehr Eigenverantwortung für das, was sie im Sprachunterricht lernen, zu übertragen. Die Lehrkräfte können zum Beispiel Vokabeln und Grammatikkenntnisse auf B1-Niveau vermitteln, aber den Lernenden die Freiheit lassen, Texte auf B1-Niveau auszuwählen, die sie interessieren.

Können Sie Beispiele dafür nennen?
Wenn ein Lernender Pferde liebt, können Sie ihm helfen, spannende Ressourcen über Pferde auf Französisch zu entdecken. Sobald die Lernenden erkennen, dass es eine ganze Welt von Informationen und Erfahrungen über Pferde gibt, die nur auf Französisch verfügbar sind, wird ihr Französisch-Lernprojekt zu ihrem eigenen, zu etwas Nachhaltigem und nicht zu etwas, das ihnen von der Schule aufgezwungen wird. Sprachlehrpersonen können ihre Denkweise auf die eines Sprachcoachs umstellen, indem sie ihre Aufgabe weniger darin sehen, denjenigen Sprache zu vermitteln, die keinen Zugang dazu haben, sondern vielmehr darin, den Lernenden dabei zu helfen, Sprachlernressourcen für sich selbst zu entdecken und einzuschätzen, für welche Sprachkenntnisse diese Ressourcen hilfreich sind. 

Welche Empfehlungen geben Sie angehenden Lehrkräften mit sprachlicher und multikultureller Sensibilität?
Wie ich bereits sagte, sollten wir die Herkunftssprachen als Ressourcen betrachten, die es zu würdigen und zu bewahren gilt, anstatt sie als irrelevant oder – schlimmer noch – als Belastungen zu betrachten, die uns bei der korrekten Anwendung der Schulsprache behindern. Wir können alle Sprachressourcen, die in ein Klassenzimmer mitgebracht werden, auf einem Plakat festhalten. Die Lehrpersonen können eine einladende Haltung vorleben, indem sie ein paar Sätze in diesen Sprachen lernen («Gut gemacht», «Guten Morgen», «Sollen wir anfangen?») und sie im Unterricht verwenden. Auf diese Weise wird nicht nur die Existenz dieser Sprachen anerkannt und begrüsst, sondern die Schüler*innen werden punktuell auch zu Expert*innen. Ohne die Kinder und Jugendlichen als Vertreter*innen einer ganzen Kultur hinzustellen, können die Lehrpersonen Neugierde vorleben, indem sie allen Lernenden Fragen über ihre Sprachen und die Praktiken ihrer Familien stellen und die gemeinsamen Freuden und Ängste aller Schüler*innen hervorheben. 

Was mögen Schüler*innen besonders?
Ich habe festgestellt, dass Aktivitäten, bei denen wir verschiedene Arten, dieselbe Sache zu sagen, miteinander vergleichen, für die Schüler*innen interessant und effektiv sind. Das funktioniert nicht nur zwischen den Sprachen, wie z. B. der Vergleich des arabischen «salaam» mit dem englischen «hello», sondern auch innerhalb einer Sprache, wenn man verschiedene Arten vergleicht, dasselbe zu sagen. Wenn die Lernenden über die Unterschiede zwischen «danke», «vielen Dank», «thnx» und «ich bin unendlich dankbar für ...» nachdenken, lernen sie, Variationen zu respektieren und zu schätzen, und je mehr Varianten man kennt, desto effektiver kann man in der Welt handeln. 

Bei Ihrem öffentlichen Vortrag am 18. Mai werden Sie über «Sprachgebrauch und Friedensförderung in einem Zeitalter der Polarisierung» sprechen. Geben Sie uns einen kurzen Einblick. 
Gerne. Der Vortrag besteht aus drei Hauptteilen. Zunächst möchte ich das Problem umreissen, indem ich Beispiele nenne, wie Sprache zu Konflikten geführt hat, und zwar auf vielen verschiedenen Ebenen – zwischen Menschen, zwischen Gruppen und auf internationaler Ebene. Zweitens werde ich die Frage «Was ist Friedensförderung?» stellen und Beispiele dafür geben, wie Sprache eingesetzt werden kann, um die Eskalation von Konflikten zu verhindern und um Konflikte beizulegen. Drittens werden wir dies auf den Bereich des Klassenzimmers (oder auch den des Arbeitsplatzes) übertragen. Ich werde eine Reihe von Aktivitäten vorstellen, die Lehrende, insbesondere Sprachlehrpersonen eingesetzt haben und die praktisch zur Friedensförderung beitrugen. Daraus können wir einige Prinzipien ableiten, die wir bei der Gestaltung unserer eigenen friedensfördernden Aktivitäten anwenden können. Gleichzeitig werden die Teilnehmenden einige Quellen und Autor*innen kennenlernen, von denen sie mehr lernen und sich inspirieren lassen können.

Interview: Christian Irgl

Language Use and Peacebuilding in an Age of Polarization

Mittwoch, 18. Mai 2022, 17-18 Uhr | Sprache kann sowohl als Mittel zur Schaffung von Feinden eingesetzt werden, kann jedoch auch ein Schlüsselinstrument für Versöhnung und Friedenskonsolidierung sein. Public Talk von Dr. Thor Sawin.

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