Technologie & Kultur

«Vielleicht nähern wir uns der Singularität»

16. Oktober 2012
Rolf Dornberger, Leiter des IWI, über das exponentielle Wachstum von Informationen, die Frage nach der Selektion des Essenziellen und das Zufallsmoment bei Klickraten. Aus der täglichen Informationsflut das Wesentliche herauszufiltern, wird immer schwieriger. Dabei gibt es mittlerweile unzählige Tools, die einem dabei helfen, Wissen nach verschiedenen Kriterien abzurufen, zusammenzustellen und zu archivieren. Vor lauter Selektieren bleibt jedoch kaum Zeit, sich das Wissen anzueignen. Es ist gewissermassen so, als verfüge man über ein immer raffinierteres Bibliothekssystem, ohne allerdings dazu zu kommen, neue Bücher zu katalogisieren und in die Regale einzuordnen oder auch nur mal ein Buch zu lesen, geschweige denn, sich wirklich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Rolf Dornberger, was tun? Rolf Dornberger: Ich weiss gar nicht, ob ein Ausweg so offensichtlich ist. Ich denke gerade an Ray Kurzweil, der in seinem Buch «Singularity is Near» verschiedene Ausprägungen der Singularität schildert. Vielleicht ist eine dieser Ausprägungen, dass wir in der Informationsflut untergehen oder vielleicht sogar in einer Wissensflut. Die Datenflut hatten wir ja in der Vergangenheit genauso. Aber heute kann man die Daten kreuzweise verflechten und immer noch mehr Informationen aus ihnen herausziehen, die wiederum abgespeichert werden. Und diese Informationen können wir nutzen, um Wissen daraus zu generieren. Wir wissen viel, wollen immer mehr wissen und ertrinken in – oder vielmehr gerade wegen – unserem Wissensdurst. Ein Beispiel dafür ist die enorme Zunahme der Google-Suchergebnisse. Genau. Sucht man heute einmal wieder nach Schlagworten, die man bereits vor zehn Jahren recherchiert hat, kann man angesichts der Vervielfachung der Treffermenge nur staunen. Die ganzen Hilfsmittel, eine Übersicht zu gewinnen, bekämpfen eigentlich nur die Symptome und nicht die Tatsache des exponentiellen Wachstums von Inhalten. Im letzten Jahr wurden übrigens zum ersten Mal mehr Daten und Informationen gespeichert, als die Speichermedienhersteller in der Lage waren, Speichermedien zu produzieren. Wir nähern uns hier vielleicht in der Tat einer Singularität, wie Ray Kurzweil und andere Wissenschaftler sie seit ein paar Jahren voraussagen.
© Gerd Altmann / www.pixelio.de
  Kannst Du den Begriff der Singularität kurz erläutern? Mathematisch betrachtet ist Singularität eine Kurve, die an einem gewissen Punkt ins Unendliche schnellt. Das ist bei gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Phänomenen, die man abbildet (Bevölkerungswachstum, Aktienwerte etc.), eigentlich nicht der Fall: Die Bevölkerung oder Aktienwerte können ausserordentlich stark anwachsen oder – im schlimmsten Fall – auf Null zurückgehen. Aber eben nicht unendlich oder negativ unendlich werden. Hingegen gibt es in den Naturwissenschaften Phänomene, bei denen man von Singularität spricht, z.B. schwarze Löcher. Kurzweil versteht nun die Singularität als einen Zustand in der Zukunft, in dem die technologische Entwicklung sich dermassen beschleunigen wird, dass sich das menschliche Leben komplett verändern wird. Er bezieht es zunächst darauf, dass Menschen ihre biologischen Grenzen überwinden und vielleicht so etwas wie Cyborgs, also Menschen mit künstlichen oder künstlich verbesserten biologischen Organen oder Gliedmassen, werden. Oder dass ihr Verstand ewig weiterlebt, konserviert in einer neuen Art von Computerchip. Wie auch immer, gesellschaftlich wird es einen Paradigmenwechsel geben, der alle Bereiche des Lebens umfasst und den wir uns derzeit noch gar nicht vorstellen können. Es wird (Menschen-)Maschinen geben, die intelligenter sind als «normale» Menschen. Es wird virtuelle Realitäten geben, die von der realen Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden sind. Die Singularität wird gemäss Kurzweil im Jahr 2045 eintreten. Dann wird die «neue Weise zu leben»  die natürliche menschliche Daseinsform überholt haben. Das klingt radikal. Was bedeutet das für eine Gesellschaft? Die Gesellschaft entwickelt sich in Richtung einer Wissensgesellschaft, denn auch das Wissen wächst exponentiell. Die Optimisten unter den Wissenschaftlern gehen zum Beispiel davon aus, dass viele neue Jobs entstehen werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Im 19. Jahrhundert arbeitete rund ein Drittel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft und ein Drittel in der Industrie. Zu Beginn des 21. Jahrhundert sind es noch je drei Prozent in der Landwirtschaft und in der Industrie. Die meisten Beschäftigungen, die wir heute haben (beruflich, aber auch in der Freizeit), gab es vor einem Jahrhundert noch nicht. Diese Entwicklung wird sich in einem immer stärkeren Ausmass fortsetzen. Wenden wir uns diesem exponentiell steigenden Wissensbestand respektive Bestand an Informationen zu. Wenn der Speicherplatz einmal begrenzt ist, stellt sich die Frage, was nicht aufbewahrt werden soll. Wer macht die Auswahl, was für die Nachwelt erhalten werden soll und was nicht? Im Prinzip geht es hier um die Frage, die ein Archiv sich stellen muss, nur in einer viel grösseren Dimension. Pauschal würde ich sagen: Wer Macht hat, entscheidet. Wer Macht hat, hat immer auch schon über die Geschichte entschieden. Die Geschichte, die wir heute lernen, präsentiert sich in dieser Form, weil Herrschaftsakteure Schriften und Artefakte aufbewahrt und weitergegeben haben. Auf dem, was davon übrig geblieben ist, basiert unser heutiges Weltbild. Wäre damals alles gespeichert worden, hätten wir ein anderes Weltbild. Zu den Archiven: Bei den Archiven ist die Sache doch etwas anders gelagert als beim Internet als Ganzes. Archive haben in der Regel einen klaren Sammelauftrag; aber auch eine Datenhoheit. Und meistens ein ziemlich beschränktes Budget. Das zwingt zur vernünftigen Selektion. Diese Hierarchie respektive Ordnungsmacht fehlt im Internet. Quasi jeder darf alles hochladen. Hier scheinen eher Zufälle zu entscheiden, was alles hochgeladen – und zum «Erfolg» – wird: Warum diese Fotos, jener Blogeintrag, diese Firmenwerbung, der Kommentar usw. Dafür weiss niemand, was auf Dauer mit Daten passiert. Wo sind diese Daten, heute, in fünf Jahren? Wer ist die Urheberin, der Urheber überhaupt? Oder die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Informationen. Was ist richtig, was falsch? Wer definiert richtig und falsch? Man kann argumentieren – und viele tun das – dass diese technologischen Entwicklungen («everyone is his own publisher») die Demokratie fördern. Tun Sie das Deiner Ansicht nach, z.B. dadurch, dass sich mittels ihrer in einer Diktatur die Zensur umgehen lässt oder festigen sie sogar noch repressive Strukturen, z.B. weil sie die Überwachung und Kontrolle unterstützen können? Ich glaube nicht, dass man, wenn es um Daten geht, die Privatmenschen hochladen, von Demokratie sprechen kann. Jeder hat das Recht, (fast) alles hochzuladen. Das ist Anarchie. Man kann damit andere auch seelisch, moralisch oder strafrechtlich verletzen. Man kann gegen gesellschaftliche Systeme protestieren. Systeme können Systeme nutzen und Leute suchen. In manchen Ländern stellt die Polizei bereits Videos auf Facebook und sucht auf diese Weise Straftäter. Die Frage ist, was mit all diesen Daten längerfristig passiert. Zumal es immer mehr werden. Was darf der Einzelne, was nicht? Was der Staat oder Organisationen? Was ist relevant? Auf die Frage nach der Relevanz würden manche antworten: Die Klicks. Ja, was wird am meisten angeklickt. Wie das genau funktioniert, ist noch nicht erforscht. Möglicherweise gibt es hierbei mehr Zufälliges, der Chaos-Theorie Entsprechendes, als man gemeinhin glauben mag. Warum erlangt ein Video mit einem nichtssagenden Inhalt plötzlich einen grossen Bekanntheitsgrad, während qualitativ hochwertige Inhalte ein Nischen-Dasein fristen? Das ist dasselbe Prinzip wie bei einem Sommersong, der zwar nicht besonders originell ist, aber ungemein viel mehr gehört wird als eine raffinierte Jazzkomposition. Natürlich, das findet man in allen Bereichen: Bei Musik, Belletristik, Kinofilmen, aber auch bei Firmen. Warum sind gerade Google und Facebook so berühmt geworden? Die Ideen gab es vorher schon. Was haben andere vor ihnen falsch gemacht?  Haben Google und Facebook einfach etwas anders gemacht? War vielleicht einfach die Zeit reif? Dieselbe Frage stellt sich bei der Klickrate. Es kann schon viel Geld investiert und damit die Erfolgsquote erhöht werden, so dass ein Unternehmen oder ein Produkt bekannt wird. Letzten Endes ist es aber auch eine Glückssache, die nicht schlüssig erklärt werden kann; mit den richtigen Ideen zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Zum Schluss noch eine Frage betreffend Ausbildung. Wie vermittelt man Deiner Ansicht nach jungen Menschen, aus der Informationsflut das zu fischen, was relevant ist? Sich fundiertes Wissen anzueignen, sich selbst zu verorten und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln? Eine Patentlösung gibt es sicher nicht. Denn wir Dozierenden gewinnen in unserem Kollegenkreis zunehmend den Eindruck, dass bei den Studierenden in puncto Meinungsbildung bereits in den letzten zehn Jahren ein Wandel eingetreten ist. Noch bis vor wenigen Jahren hatte man weniger Basisinformationen, Basispublikationen zur Verfügung und musste sich schneller eine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten. Heute kämpfen viele Studierende damit, dass sie dermassen viel Fremdwissen finden, dass sie dazu neigen, überfordert zu sein, das Wesentliche herauszufiltern. Manchmal stoppen sie dann die Recherche zu früh und beziehen sich auf schlechte Artikel ohne sachliche Basis und mit viel Meinung. Ein Bildungsweg ist sicherlich, die Studierenden methodisch zu trainieren, Probleme von morgen zu lösen, die wir heute noch gar nicht kennen. Und dazu gehört auch der Umgang mit der Informationsflut. Literaturtipp Ray Kurzweil: The Singularity is Near. G Duckworth, London 2006, ISBN 978-0-7156-3561-2.

Schlagworte: Informationsgesellschaft, Innovation, Internet, Singularität, Technologiefolgenabschätzung

zurück zu allen Beiträgen

Kommentare

Keine Kommentare erfasst zu «Vielleicht nähern wir uns der Singularität»

Neuer Kommentar

×