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Übergang in die Selbstständigkeit - junge Erwachsene forschen mit!

Was benötigen junge Menschen nach dem Austritt aus einer stationären Erziehungshilfe oder einer Pflegefamilie für einen erfolgreichen Übergang in die Selbstständigkeit? In einem partizipativen Forschungs- und Entwicklungsprojekt sucht die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Antworten auf diese Frage.

Junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen oder Pflegefamilien verbracht haben und sich im Übergang ins Erwachsenenalter befinden, werden als Care Leaver bezeichnet.

Bild zum Forschungsprojekt «Care Leaver erforschen Leaving Care»

Sozialer Ausschluss droht

Care Leaver verlassen mit Erreichen der Volljährigkeit in der Regel die Jugendhilfe. Gleichzeitig endet damit die öffentliche Verantwortung. Im Übergang in die Selbstständigkeit sind sie daher häufig sehr abrupt auf sich gestellt. Internationale Studien zeigen dazu ein klares Bild: Care Leaver sind verletzlich und tragen hohe Risiken des sozialen Ausschlusses. Sie sind überdurchschnittlich oft von früher Elternschaft, gesundheitlichen Problemen oder gar Obdachlosigkeit betroffen. Sie verlassen die Schule häufiger mit einem niedrigeren oder ohne Abschluss und verfügen über geringere soziale Unterstützungsnetzwerke als ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen. In der Schweiz wird der Situation jener jungen Frauen und Männer bislang wenig Beachtung geschenkt. 

Gestaltung der eigenen Zukunft

Das partizipative Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Care Leaver erforschen Leaving Care» will dem entgegenwirken. Das Projekt soll aufzeigen, auf welche Herausforderungen Care Leaver nach einem Austritt aus einer stationären Erziehungshilfe oder einer Pflegefamilie stossen. Weiter interessiert der Bedarf an Unterstützung im Übergang in die Selbstständigkeit, damit Care Leaver ihre Zukunft aktiv planen und gestalten können. Ziel ist es, Empfehlungen zur Gestaltung der Unterstützung in den Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt abzugeben.

Interview: «Die Care Leaver sind sehr engagiert, das freut uns!»

Prof. Dr. Dorothee Schaffner ist Mitglied des Forschungsteams im Projekt «Care Leaver erforschen Leaving Care»Dorothee Schaffner*, was ist das Ziel dieses Projektes?

Das Projekt soll aufzeigen, wie die Care Leaver ihren Übergang ins Erwachsenenalter erleben und auf welche Herausforderungen sie nach einem Austritt aus einer stationären Erziehungshilfe oder einer Pflegefamilie stossen. Wir möchten für die Anliegen der Care Leaver sensibilisieren: Welche Unterstützung ist hilfreich, um Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten? Damit leistet das Projekt einen Beitrag zur Entwicklung bedarfsgerechter Unterstützung in den Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt. 

Das Projekt wird als «partizipatives Forschungs- und Entwicklungsprojekt» beschrieben. Was bedeutet das?

Das ist ganz einfach: Care Leaver forschen als Expertinnen und Experten ihrer Erfahrungen mit uns. Mit ihnen analysieren wir, wo die grössten Herausforderungen sind. Sie führen Interviews mit anderen Care Leavern und diskutieren mit uns die Ergebnisse. Gemeinsam werden Empfehlungen abgeleitet. 

Und wie habt ihr Care Leaver gefunden, die mitforschen?

Das war nicht einfach. Zuerst haben wir Briefe und Faltprospekte versandt. Die Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt haben uns dabei unterstützt. Doch darauf gab es praktisch keine Rückmeldungen. Dann haben wir unterschiedliche Fachpersonen angeschrieben und das Projekt an den Heimleiterkonferenzen der beiden Basel vorgestellt. Dabei sind wir auf grosses Interesse gestossen. Und dann hatten wir Glück: Zwei ehemalige Master-Studierende der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW sind in ihrer jetzigen Tätigkeit im Rahmen von Heimerziehung und Sozialpädagogischer Familienbegleitung in Kontakt mit Care Leavern. Über sie konnten wir schliesslich die Verbindung herstellen.

Zurzeit haben wir Kontakt zu etwa 20 Care Leavern. Der Kontaktaufbau begann mit verschiedenen Treffen: Wir gingen Pizza essen oder trafen uns auf einen Kaffee. In diesem Rahmen wurde bereits viel diskutiert und wir konnten über das Projekt informieren. Die Beteiligten zeigten grosses Interesse am Projekt. Einige haben sich auch wieder zurückgezogen, da ihre jetzige Lebenssituation (Abschlussprüfungen, zeitliche Belastungen durch Familie und Beruf, Lebenskrisen) eine Teilnahme nicht ermöglicht. In What’s App-Austauschgruppen, die wir für die Projektkommunikation nutzen, sind sie dennoch dabei.

Das Projekt startete im Februar 2017. Wo steht ihr jetzt?

Das Projekt ist auf vier Zyklen angelegt. Der erste Zyklus diente dazu, Kontakte zu Care Leavern aufzubauen. Diese Phase haben wir im September 2017 abgeschlossen. Jetzt befinden wir uns im zweiten Zyklus. In Workshops mit kleinen Gruppen geht es darum, ein gemeinsames Verständnis von Forschung zu entwickeln. Wir haben darüber gesprochen, welche Themen die Care Leaver in Bezug auf ihren Übergang ins Erwachsenenalter beschäftigt haben und was interessante Fragen sind.

Anschliessend entwickelten wir gemeinsam einen Leitfaden für die Interviewführung. Dann haben wir Interviewsituationen geübt, Regeln erklärt und einander Feedbacks gegeben. Die Co-Forschenden haben sehr schnell verstanden, was wichtig ist: In einem Interview hat das Gegenüber zu erzählen, während die Interviewenden zuhören und Fragen stellen. Die eigene Geschichte ist hier nicht im Vordergrund.

Gibt es Besonderheiten bei der Zusammenarbeit mit Care Leavern?

Bei den teilnehmenden Care Leavern ist ein hohes Engagement spürbar, dies freut uns sehr. Sie sind alle sehr interessiert und haben ein Anliegen, dass sich etwas ändert. Wir haben festgestellt, dass die Workshops bei den Care Leavern sehr viel auslösen: Sie sind unterschiedlich weit in der Verarbeitung ihrer persönlichen Geschichte, dies erfordert eine sorgfältige Begleitung.

Toll ist, wie sie ein «Gespür» für Forschung entwickeln. Ein Mann meinte nach fünf geführten Interviews: «Was ist eigentlich das Verbindende zwischen uns Care Leavern?» – eine typische Forschungsfrage. Eine Frau meinte, sie forsche gern und freue sich, dass sie nun lernen kann, Interviews zu führen.

«Ich mache hier mit, weil ich mit dem Thema vertraut bin. Viele haben Probleme beim Auszug aus dem Heim. Es liegt mir am Herzen, dass sich etwas ändert.»

Mirian Diz, Care Leaverin und Expertin ihrer Lebenssituation im Forschungsteam

Und welche Arbeiten stehen nun bis zum Projektende im Dezember 2019 an?

Bis jetzt haben die Care Leaver rund 20 Interviews geführt. Die Projektleitung nimmt eine erste Auswertung vor und greift dabei Themen auf, die von den interviewten Care Leavern immer wieder als Herausforderung erwähnt werden. Diese werden gemeinsam diskutiert und gewichtet. Die abgeleiteten Empfehlungen können eine Grundlage schaffen, damit Care Leaver in den Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt künftig die Unterstützung erhalten, die ihren Bedürfnissen entspricht.

Können bereits einige Erkenntnisse aus diesem Projekt gezogen werden?

Ja, zum Beispiel wird bei allen der Umgang mit den Behörden thematisiert. Care Leaver sind bei der Existenzsicherung häufig auf finanzielle Unterstützung oder Beratung angewiesen, wissen nicht, wie sie dazu kommen und welche Rechte sie haben. Oder an wen sie sich wenden können, wenn der Brief der Arbeitslosenkasse unverständlich ist oder Fragen zur Steuererklärung bestehen. Es braucht also Unterstützung, um das System zu verstehen, welches nach dem Austritt aus der Jugendhilfe folgt. Weiter müssen viele Care Leaver erst lernen, für sich selbst zu sorgen: zum Beispiel eine Wohnung suchen, den Mietzins bezahlen oder tägliche Aufgaben wie Einkaufen und Kochen erledigen. Auch dafür braucht es manchmal dem Bedarf entsprechende Hilfe.


* Prof. Dr. Dorothee Schaffner ist Mitglied des Forschungsteams im Projekt «Care Leaver erforschen Leaving Care».

Weiterbildungsangebot

Das Fachseminar «Care Leaver aus Heimerziehung und Familienpflege begleiten» wurde pararell zu diesem Projekt entwickelt. Die nächste Durchführung findet vom 24. bis 26. Oktober 2018 statt.

Weitere Informationen

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