Studie: Waisenhaus Einsiedeln – zwischen Fürsorge, Fremdbestimmung und Schweigen
Der Bezirk Einsiedeln liess durch die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW die Geschichte des Waisenhauses und späteren Kinderheims in Einsiedeln aufarbeiten. Der vollständige Bericht ist nun veröffentlicht.
Es ist sechs Uhr morgens im Waisenhaus Einsiedeln. Ein neuer Tag beginnt. Die Kinder und Jugendlichen werden von einer Schwester geweckt, knien sich zum Gebet hin und müssen sich anschliessend einer Kontrolle unterziehen: Wer das Bett eingenässt hat, wird blossgestellt, ins nasse Bettzeug gedrückt, kalt abgeduscht oder geschlagen – ein demütigender Start in einen Tag, der von Angst, Strenge und Gewalt geprägt sein wird.
Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW hat im Auftrag des Bezirks Einsiedeln die Geschichte des Waisenhauses und späteren Kinderheims in Einsiedeln aufgearbeitet. Die eingangs beschriebene Szene ist exemplarisch für einen Tagesablauf, wie er durch ehemalige Bewohner:innen im Rahmen der Aufarbeitung geschildert wurde. Eine Szene, wie sie leider für viele Kinder und Jugendliche in der gesamten Schweiz, nicht nur in Einsiedeln, Realität war. Dies wurde in den letzten Jahren durch eine systematische Aufarbeitung der Geschichte von Fremdplatzierungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen deutlich.
Einsiedeln im Fokus
Auslöser der Untersuchung war Ende 2018 die Rückkehr des ehemaligen Heimleiters nach Einsiedeln. Ehemalige Heimkinder erhoben schwere Vorwürfe, unter anderem wegen sexueller Übergriffe und psychischer Gewalt. Der Bezirksrat beauftragte daraufhin 2022 eine unabhängige historische Studie. Die Podiumsveranstaltung zur Veröffentlichung ist bezeichnenderweise mit «Mer hät’s us nüd glaubt» betitelt. Dass heute den Betroffenen geglaubt wird, zeigt, wie sehr sich unser gesellschaftliches Bewusstsein für Unrecht und Kindeswohl geändert hat. Und wie wichtig ein genaues Hinschauen und Thematisieren ist, wo Menschen betroffen sind, die nicht selbst für sich sprechen können. Besonders wenn wegschauen leichter wäre.
Unter der Leitung von Dr. Kevin Heiniger und der Mitarbeit von Annette Lichtenauer MA, Dr. Simone Girard-Groeber und Dr. Christine Matter (Hochschule für Soziale Arbeit FHNW) ist nun eine umfassende Publikation entstanden. Der 240-seitige Schlussbericht zeigt, wie aus einer Einrichtung der Fürsorge für viele Betroffene ein Ort von Kontrolle, Entwurzelung und Leid wurde. Die Studie beleuchtet zum einen Strukturen und Verantwortlichkeiten, zum anderen das Leben der Kinder im Heim – zwischen Zwang, Strenge, Einsamkeit und kleinen Momenten von Geborgenheit.
Der Bericht deckt den Zeitraum von 1861 bis 1972 ab. Er stützt sich auf Archivquellen, Zeitzeugnisse und Interviews und dokumentiert sowohl administrative und politische Zusammenhänge, die Situation im Heim, wie auch exemplarische und aussergewöhnliche Einzelschicksale.
Die Frage der Verantwortung
Die Aufarbeitung ordnet die Vorgänge in den Kontext der Zeit ein: wirtschaftlicher Druck, Vorurteile und pragmatische Überlegungen standen im Vordergrund. Die Verwaltung durch Klosterschwestern war vor allem eine kostengünstige Lösung – keine pädagogische. Die betroffenen Kinder stammten fast ausschliesslich aus armen Familien – viele waren keine Vollwaisen. Die Trennung von den Eltern galt als Chance, sie dennoch zu «sittsamen» Bürger:innen und Katholik:innen zu erziehen. Diese «sittsamen» Bürger:innen waren es aber auch, die von den Zuständen im Waisenhaus wussten, sie tolerierten oder gar befürworteten.
Das Waisenhaus in Einsiedeln stand über Jahrzehnte für eine Fürsorgepolitik, die stark von ökonomischem Denken und fehlender Kontrolle geprägt war. Während für andere Bevölkerungsgruppen neue Einrichtungen entstanden, blieben Kinder in ungeeigneten Räumen ohne Lobby und Schutz. Die Zusammenarbeit zwischen Bezirk und Ordensschwestern erwies sich als kostengünstig, aber nachteilig für die Kinder: kaum Aufsicht, wenig Investitionen und ein Erziehungsalltag, der von Strenge, Isolation und Gewalt bestimmt war. Im Vorwort des Berichts wird dies durch den Bezirk Einsiedeln treffend zusammengefasst:
«Das Kinderheim Einsiedeln war mehr als ein Ort der Unterbringung. Es war ein Raum, in dem sich gesellschaftliche Vorstellungen von Ordnung, Erziehung, Armut und Gehorsam in konkret gelebte Praxis verwandelten. Es war auch ein Spiegel dafür, wie die Gesellschaft mit ihren verletzlichsten Mitgliedern umging – mit Kindern aus armutsbetroffenen, alleinerziehenden oder jenischen Familien, mit Kindern von Migrantinnen oder solchen, die einfach «nicht passten». Für viele bedeutete der Heimaufenthalt Entwurzelung, Einsamkeit, Stigmatisierung – und in manchen Fällen tiefgreifende Traumata, die bis ins Erwachsenenleben nachwirkten.»
Mit diesem Bericht öffnet Einsiedeln ein Kapitel, das zu lange verdrängt wurde. Die Aufarbeitung der Geschehnisse lädt ein zum Hinschauen, Mitlesen und Mitfühlen – und sie setzt ein Zeichen: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann verhindern, dass sich Unrecht wiederholt.
Der vollständige Bericht ist beim Bezirk Einsiedeln verfügbar: www.einsiedeln.ch.


