Bachelor in Geomatik, Studierende berichten

Studierende berichten: Muttenz Vs. Aleppo: Geomatikausbildung und Berufspraxis im Vergleich

4. Oktober 2022

Trotz Studienabschluss nochmals auf die Schulbank. Zwar habe ich in Aleppo (Syrien) bereits fünf Jahre Geomatik studiert, einen Abschluss als Geomatikingenieur gemacht und danach drei Jahre als Geomatiker gearbeitet, doch wird diese in der Schweiz nicht anerkannt. Aufgrund des Krieges musste ich Ende 2018 in die Schweiz flüchten. Seit 2020 arbeite ich als Geomatiker in einem Büro. Weil ich meinen Beruf sehr liebe, habe ich mich entschlossen, nochmals Geomatik zu studieren, diesmal in Muttenz.

Studium beginnt mit Hindernissen

Als Flüchtling mit Status F ist das Einverständnis des Sozialamtes und eine Anstellung zwingende Voraussetzung, um ein Studium beginnen zu können. Zusätzlich verlangt die Schule ein B2 Deutsch Zertifikat. Das Sozialamt übernimmt die Kosten für den erforderlichen Kurs jedoch nicht und das monatlich zur Verfügung gestellte Geld reicht lediglich, um die laufenden Haushaltskosten für eine Familie zu begleichen, was die Sache erschwert. Zudem gibt es trotz bereits guten Deutschkenntnissen gewisse Sprachbarrieren, weil die Umgangssprache Schweizerdeutsch ist. Der erste Schultag in Muttenz war besonders schwierig. Ich fühlte mich fremd, besonders in informellen Situationen, in denen Mundart gesprochen wurde. Wenn ich etwas nicht verstanden habe, hatte ich oft Hemmungen, nachzufragen.

Unterschiedliche Unterrichtsqualität

In Aleppo bestand die Ausbildung aus einer grossen Anzahl von Modulen. Während fünf Jahren (2009-2014) mussten wir deren 61 absolvieren. Sie waren mehr in die Breite als in die Tiefe angelegt. Zudem wurde Wissen doziert, welches in der Praxis nie angewendet werden konnte, da es sich um überholtes und nicht mehr praxisgerechtes Wissen handelte (z.B. Visual Basic). Es gab viele Vorlesungen, zu denen man sämtliche Notizen selbst erstellen musste, da ansonsten keine Unterlagen vorhanden waren.  Das war aber schier unmöglich, da die Fülle des vermittelten Stoffes dermassen gross war, dass man sich nicht in der Lage sah, dies alles selber zu notieren. Jedoch sassen während der Vorlesungen jeweils 3 oder 4 Kommilitonen dabei, welche sich durch enormen Fleiss auszeichneten und alles aufschrieben. Sie liessen sich diesen Fleiss bezahlen, indem man die Kopien, welche man dann in der Bibliothek abholen konnte, berappen musste.
Der Studienbeginn in Muttenz hat bei mir einen mittleren digitalen Kulturschock ausgelöst. Denn alle Studierenden verwenden einen Laptop und haben direkten Zugang zum Intranet.  Viele Unterrichtsunterlagen lassen sich von dort herunterladen. In Aleppo gab es das nicht. Da war Handarbeit gefragt.

Ein weiteres Unterrichtstool, welches nicht eingesetzt wurde, war das Kolloquium. So fehlten uns ständig die Informationen zu Neuerungen und technischem Fortschritt und der fachbezogene informelle Austausch unter den Studierenden ging völlig verloren.

Eine weitere Besonderheit stellten die Prüfungen dar. Diese durfte man so oft wiederholen, wie es notwendig war, um sie zu bestehen!

Unterschiedliche Berufspraxis

Bei meinem ersten Stellenantritt in Aleppo hat der Chef zu mir gesagt: «Yamen, du musst alles vergessen, was du an der Uni gelernt hast; wir fangen hier neu an». In der Tat war der Berufsalltag ganz anders, als die Theorie des Studiums, das uns vermittelt worden war. Die Instrumente, die wir verwendet hatten, waren sehr alt, so dass ich einige Male die Daten manuell auf Papier übertragen musste. Es erforderte viel Mühe, Daten von der amtlichen Vermessungsstelle zu erhalten. Oft halfen nur «Schmiermittel», um die Dinge zu beschleunigen. Ferner waren die Bauvermessungen aufwendig, weil nicht viele Fixpunkte zur Verfügung standen. Von den erhaltenen LFP1 Punkten musste man zuerst noch einen LFP2 und LFP3 erstellen, bevor man die eigentliche Arbeit erledigen konnte.

In der Schweiz kann ich nach zweijähriger Berufserfahrung sagen, dass die Arbeit viel speditiver vor sich geht. Die Geräte und die erforderlichen Daten sind vorhanden. Die Arbeitsmotivation ist hoch. Die Entlöhnung erfolgt durch einen Fixlohn, unabhängig von der Anzahl erledigter Projekte, das im Gegensatz zu Aleppo, wo man nach absolviertem Projekt bezahlt wurde. Gewisse Arbeiten können dank moderner Geräte hier selbstständig durchgeführt werden. Das GPS kann in der Schweiz von jedermann genutzt werden. In Aleppo nur vom Militär.

Infrastruktur

Während des Unterrichtes in Muttenz fühle ich mich viel behaglicher als seinerzeit in Aleppo. Ich erlebte hier noch nie einen Stromausfall. Schulisch eingesetzte Beamer während des Unterrichtes gehören hier zum Alltag. Es ist eher selten, dass der Dozent eine Wandtafel benützt. In Aleppo ist es gerade umgekehrt. Hybrider Unterricht im Falle einer Absenz ist möglich. Zudem wird in Muttenz wird versucht, die Studierenden immer mit den modernsten Instrumenten und Methoden zu unterrichten.

Mein vorläufiges Fazit

Hier fühle ich mich wohl. Ich habe den Eindruck, dass jede erlebte Minute eine sinnvoll eingesetzte ist. Gelegentlich leide ich immer noch an meinem „Sonderstatus“ als Ausländer, insbesondere, wenn es darum geht, Arbeitsgruppen zu bilden. Da kann es schon vorkommen, dass ich allein dastehe. Ich erlebe die anderen oft wie eine grosse Familie. Der Weg zur Zugehörigkeit ist hart und ich muss ihn mir mit Fleiss, Fachwissen und Verständnis erarbeiten. Aber es gibt durchaus auch Mitstudierende, die mir das Gefühl vermitteln, ein Teil von ihnen zu sein. Und das stimmt mich wieder hoffnungsvoll.

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