1969, Solothurn

1969 – Solothurner Frühling – als die Theorie zur Praxis wurde

9. August 2021

Nach der Entlassung eines Dozenten übte eine Gruppe von Studierenden an der Schule für Sozialarbeit Solothurn den Aufstand. Eine Zeit, die für die Schulleitung als Krise, für die Beteiligen als «Solothurner Frühling» in die Annalen einging. Die heutige Dozentin und Autorin Charlotte Friedli war damals mittendrin.

Quelle: Privatbesitz Charlotte Friedli

Die Zeit nach 1968 war eine Zeit des Umbruchs. Das war auch an der Schule für Sozialarbeit Solothurn (SSAS) Anfang der 1970er-Jahre zu spüren und führte schliesslich zu einem Ereignis, das von den Studierenden rückblickend als «Solothurner Frühling», von der Trägerschaft der Schule als «Krise» bezeichnet wurde.

Was war geschehen? Das ehemalige Fürsorgerinnen-Seminar des Seraphischen Liebeswerks Solothurn (SLS) hatte eine weitreichende Schulreform hinter sich, im Zuge derer nicht nur der Name der Schule geändert wurde. Der Ausbildungsgang wurde den Programmen der anderen Schulen für Sozialarbeit der Schweiz angeglichen, Männern und Angehörigen anderer Konfessionen war es neu auch erlaubt, die Ausbildung zu absolvieren. Und: Um den neuen Lehrgang überhaupt durchführen zu können, mussten auch neue Dozierende angestellt werden. Und einige von ihnen waren – anders als die katholisch-konservative Trägerschaft – politisch links.

Das sprach sich schnell herum. So war es etwa für Charlotte Friedli, heute Dozentin und Autorin, mit ein Grund, dass sie sich für die SSAS entschied, wie sie erzählt. «Ich wollte die Welt bewegen. Und von der SSAS habe ich gewusst, dass diese politisch links ist, und zwar auch die Dozierenden.» Auch Therese Frösch, ehemalige Nationalrätin der Grünen und Co-Präsidentin der SKOS, absolvierte ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin in Solothurn. In einem Interview sagte sie einst: «Ich wollte nicht Lehrerin werden, ich suchte ein politischeres Umfeld. Gute Freunde sagten mir, an der Schule für soziale Arbeit in Solothurn habe es viele linke Lehrer.» Ihr Entschluss war somit gefasst. Der Unterricht war denn auch eher unkonventionell. Im Klassenzimmer wurde geraucht und gestrickt, Distanz zwischen Studierenden und Dozierenden gab es nicht. Die Gruppenräume im Kellergewölbe waren durchgehend geöffnet, gemeinsam wurde bis tief in die Nacht diskutiert, gefestet, getrunken und auch gekifft. «Wir haben so nächtelang die Welt verbessert – zumindest in der Theorie», sagt Charlotte Friedli.

Doch es kamen Spannungen auf. Im Seraphischen Liebeswerk Solothurn und dessen Umfeld wurden gegenüber der SSAS, ihrem Programm und ihrer Unterrichtspraxis kritische Stimmen laut. Im Frühjahr 1974 wählte das SLS mit Urs C. Reinhardt, dem damaligen Generalsekretär der CVP, einen Mann zum Rektor, der fest im katholischen Umfeld des SLS verankert war. Zum endgültigen Bruch zwischen Schulleitung und einem Teil der Studierenden kam es schliesslich, als das SLS jenen Dozenten entliess, der mit seiner kritischen und politischen Haltung unter den Studierenden am meisten Sympathien genoss.

Was dann passierte, beschreibt Charlotte Friedli folgendermassen: «Endlich konnten wir das, was wir über die Jahre in der Theorie gelernt hatten, auch tatsächlich umsetzen. Es kam zur Revolution an der Schule für Sozialarbeit Solothurn.» Später erhielt diese Phase den Namen «Solothurner Frühling», in Anlehnung an den Prager Frühling, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit zurücklag.

Friedli war an vorderster Front mit dabei. Sie und ihre Mitstreiter*innen hätten das Erwachen als Lernprozess angeschaut, sagt sie. «Wir veranstalten Vollversammlungen, führten Hearings durch und gingen an die Presse. So wie man das eben macht, wenn man in den politischen Widerstand geht.» Eine Aktion kostete Friedli fast den Schulabschluss. Eines Nachts hatte sie klammheimlich Flugblätter aufgehängt, auf denen sie die Leitung der Schule aufs Schärfste kritisierte. Vonseiten der Schule hiess es schliesslich, wenn sich die Person, die diese Aktion zu verantworten habe, nicht melde, würde der ganze Jahrgang nicht diplomiert. Charlotte Friedli sagte nichts. Und schliesslich erhielten alle ihr Diplom. 

Der Aufstand brachte nicht den gewünschten Erfolg. Zu gross die Uneinigkeit bei der Schüler*innenschaft selbst, zu klein die Sympathien in Öffentlichkeit und Politik. Dennoch: Trotz der Intervention ihrer Trägerschaft wurde die SSAS nicht wieder zum alten Fürsorgerinnen-Seminar, im Laufe der Zeit wurden weitere Reformen umgesetzt. Und die Studierenden hätten in dieser Zeit gesehen, was mit Solidarität alles erreicht werden könne: «Solidarität ist etwas vom Wichtigsten», sagt Charlotte Friedli.

Informationen aus:

  • Gespräch mit Charlotte Friedli
  • Artikel «Sind Sie eine Sozialromantikerin» in der Wochenzeitung vom 2.4.2015
  • «Solothurner Frühling – oder die Geschichte einer Intervention», Ruedi Epple, 2013
  • «Umbruch im Märchenwald – Mata Mannhart und die Schule für Sozialarbeit Solothurn»; ein Film von Christina Besmer und André Kilchenmann, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, 2010

Ausgewählte Einblicke in den Schulalltag (Quelle: Privatbesitz Martin Studer)

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