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“Am seidenen Faden… - Klaviermusik des neuen Milleniums»

Gesprächskonzert vom 27. Februar 2018 am Campus in Brugg-Windisch

Rückblick auf die Veranstaltung

Am seidenen Faden – Ein anderes Klavierkonzert mit Jugendlichen als Exempel für den mutigen Einsatz Neuer Musik im Unterrichtskontext

Achtung! – Die Beschäftigung mit Musik kann ihre gemächliche Langeweile gefährden. Sie verunsichert uns in den scheinbaren Vertrautheiten unserer alltäglichen Hörwelten. Sie kann erschrecken, holt uns heraus aus dem Alltag, „treibt uns an die Grenzen der Erfahrung“ (B. Waldenfels), wirft Fragen auf. Ja, darf Musik denn das? Soll sie uns nicht vielmehr entspannen, erfreuen, unterhalten?

„Für uns kann ein Reiz gar nicht abgebraucht genug sein, denn wir wollen ja gar nicht mehr gepackt werden […]; wir wollen vielmehr nur noch genießen […]“, provoziert der Dirigent, Musiker und Forscher Nikolaus Harnoncourt in seinem bekannten Essay „Musik als Klangrede“ (Salzburg 1982, S.33). Deshalb gehen wir, so Harnoncourt, auch am liebsten in solche Konzerte, „in denen Musik gespielt wird, die wir kennen.“ Doch genau das geht am genuinen Wesen der Musik eigentlich vorbei. Musikhören ist „gefährlich“ und das demonstriert Neue Musik im Besonderen – gerade, weil wir sie nicht kennen. „Der Gefährdung durch ihr Neusein ist Zeitgenössische Musik seit jeher ausgesetzt“, so Tomas Dratva, Pianist und Klavierpädagoge (www.tomasdratva.com), der gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern der Alten Kantonsschule Aarau am 27. Februar 2018 im Rahmen von «Musik und Mensch 2017/18» zu einem Gesprächskonzert einlud, das den Abschluss des von ihm initiierten pädagogischen Projekts «Am seidenen Faden» repräsentiert.

Schreibt der Philosoph Bernhard Waldenfels in seinem Essay „Staunend lehren – lernend staunen“, dass es wahrlich zu kurz greift, in der Vermittlung der Künste, lediglich das „kulturelle Gewissen zu beruhigen“, so hat dieser Abend genau das aufgegriffen, was er dagegenhält: nämlich der Kunst „ihre Ferne, ihre Widerstandskraft, ihre aus Erstaunlichem und Erschreckendem gemischte Zugkraft“ zu erhalten (Sinne und Künste im Wechselspiel, Frankfurt am Main 2010, S.130). Analog dazu bringt Dratva Piero della Francescas Gemälde «Brera Madonna» (1472) ins Spiel. Ein zerbrechliches Ei hängt fragil über dem Haupt der Madonna und dem Christuskind. Was, wenn der Faden reisst und das Ei bricht? Leben, Kreativität und Kunst sind zerbrechlich, wie Dratva in seiner Konzerteinleitung schreibt. Und diese Spannung ist es doch, die Musikhören und -machen auszeichnet, soll ergänzt werden.

Seit Dezember 2017 setzten sich die neun Klavierschülerinnen und -schüler mit Kompositionen von Beat Furrer, Martin Derungs, Peter M. Hamel, Peter Eötvös, Nicolas A. Huber, Johannes Menke und Julia Gomelskaya auseinander. Es sind Partituren einer für sie völlig neuen Art, die besonders deutlich machen, dass Musikhören, wie Waldenfels schreibt, zwar nicht heisst, mit anderen Ohren zu hören, aber „auf andere Art und Weise“, „vielleicht mit einem dritten Ohr“; und die exemplarisch zeigen, dass sich Musik nicht mit dem Anspruch verbindlicher „End-Gültigkeit“ festschreiben lässt. (Obgleich wir immer wieder dazu neigen). Wolfgang Gratzer warnt davor, im Festschreiben „eines ihrer anziehendsten Wesensmerkmale, ihre artifizielle Mehrdeutbarkeit zu verkennen“ (Nähe und Distanz, Hofheim 1996, S.11). Viel verlangt die Musik den jungen Musikerinnen und Musikern ab und erhebt den Anspruch auf Neugier, Innovationsgeist und ein gewisses Durchhaltevermögen. Die Auseinandersetzung mit dem Neuen und Unkonventionellen setze aber auch die Tradition der gesamten Klaviermusik in ein neues Licht, so Dratva.

Musik in Szene – In einem Kellerraum der Pädagogischen Hochschule in Brugg-Windisch steht ein Steinway-Flügel. Ein schöner Bruch zum schlichten, Werkstatt ähnlichen Raum. Kunst im Underground. Aber genau das ist Neue Musik (noch immer) ja auch irgendwie. Die Lichtinstallation lässt zwei Schatten entstehen, die vielleicht auch visuell die vielen Facetten des Instruments, die für die offenen Ohren des interessierten Publikums an diesem Abend in besonderer Intensität hörbar wurden, repräsentieren. Die unterschiedlichen Werke, die Tomas Dratva in sorgsamer Weise für (und mit) den einzelnen Schülerpersönlichkeiten ausgewählt hat, eröffneten ein breites Spektrum an Klangwelten – wiewohl den ganzen Abend nur ein Instrument auf dem Podium war. Neue Musik macht die Materialität und Stofflichkeit der Klänge spezifisch erfahrbar: es sind klare und schummrige- gehauchte, scharf-spitze und weiche, schwere und leichte Klänge. Mal ist das Klavier ein wildes Tier, innen drinnen brodelt es, mal atmet es deutlich auf; die Klänge verändern sich während sie klingen, das Verborgene und die Erinnerung, das Schöne und das Schreckliche werden zum Klang. Es ist für die Rezipientin spannend, die expressiven Spielbewegungen mitzuerleben, Ausdruck und Konzentration der Musikerinnen und Musiker, was allesamt eine sehr persönliche Auseinandersetzung in hoher Qualität, ja eine nicht erwartete Tiefe, hörbar macht.

Die gelungene Inszenierung des Konzerts lässt Raum und Zeit für eine weiter gehende Auseinandersetzung mit der Musik (zu der auch die Ausführenden gehören, entsteht Musik doch immer wieder neu im Moment durch das Individuum). Dratva entwickelte drei Blöcke, die jeweils thematisch einen inneren Zusammenhang aufweisen. Nachdem die Stücke eines Blockes gespielt wurden, kam der Lehrer mit seinen Interpretinnen und Interpreten in ein Gespräch auf Augenhöhe. Und er nimmt seine Schülerinnen und Schüler als Musiker ernst – das ist deutlich spürbar, tut wohl (und, wenn man anmerken darf, verleiht dem gesamten Abend eine besondere Atmosphäre jenseits eines klassischen Schülerkonzertes, an dem die adrette Aufmachung der Kinder oft mehr im Vordergrund steht als die Musik selbst). Im Anschluss an das Gespräch wurden die gleichen Werke noch einmal hörbar. Dass die Schülerinnen und Schüler alle auf der Bühne verweilen, verstärkte diesen inneren Zusammenhalt.

Die „normale Musik“ und „die andere“ – Schüler und Schülerinnen forschen im künstlerischen Tun. Künstlerische Forschung geht hinaus über das simple Abspielen von Stücken. Was Tomas Dratva mit seinen Schülerinnen und Schülern hier forciert, ist ein echter künstlerisch-forschender Zugang. Es beeindruckt nicht nur, in welcher Art die Schülerinnen und Schüler über die Musik sprechen, sondern vor allem wie sie sich „ihren“ Werken genähert haben oder nähern mussten. Es lag, ob der Natur der Sache, wohl auch als Herausforderung per se in der Arbeit selbst: Fremdheiten konnten nicht einfach getilgt werden, sondern, wie es Waldenfels ausdrückt, kam es zu einer „responsiven“ Auseinandersetzung. Wollte man das Stück lernen, so konnte man sich davor nicht verstecken, sich nicht wegdrehen – man musste antworten auf das Fremde. Die Schilderungen machten deutlich, dass es nicht nur ein Suchen und Entdecken war, sondern sehr wohl auch ein Probieren, Kämpfen und Hadern, bis endlich ein Zugang da war und eine intime Vertrautheit mit dem Stück entstehen konnte.

Die ersten Erfahrungen mit den Stücken wurden von den Schülerinnen und Schülern in Begriffe wie seltsam und ungewohnt, verängstigt durch laute Töne und neue Spieltechniken gefasst. Die Musik forderte also nicht nur in technischer Hinsicht. Sie nahm den ganzen Menschen in Beschlag. Die Offenheit hinsichtlich Struktur, Notation, Dynamik, Notenschlüssel oder Takt wurde von beinahe allen als Hindernis genannt, das es zu überwinden galt. Allerdings erzählten beispielsweise N. und J., dass sie nach den Anfangsschwierigkeiten, einzelne Töne miteinander zu verbinden, nun tatsächlich eine Melodie hören. Für das Publikum wurde ersichtlich, dass ein Bezug, ein Verständnis und vielleicht sogar eine Liebe zum Werk erst durch die intensive Auseinandersetzung entstehen kann, die jedenfalls Zeit braucht. Es ist selbständiges Arbeiten von Nöten, im Zuge dessen der/die Einzelne ausprobieren und entwickeln darf. Und diese Arbeit ist spannend, so der Tenor in der Gruppe. Was gefällt und Spass macht, ist aber auch individuell: braucht der/die Bilder zur Umsetzung, ist der/die andere fasziniert von speziellen Spielbewegungen, wie dem Greifen auf die Saiten und vom Erzeugnis neuer Töne. Andere wiederum gehen analytisch an die Sache heran: „Für mich entstand ein Bezug, als klar war, dass man leise bleiben muss“. Und auch die Beschäftigung mit den Komponisten und den Hintergründen kann eine Tür öffnen. So meinte A.: „Anfangs hatte ich Mühe das Stück zu spielen. Ich musste nebenher immer wieder etwas Normales spielen. Es war schwer, es zu schätzen. Dann fand ich Informationen über Luciano Berio. Das hat mir Gedanken eröffnet und jetzt mag ich es. Jetzt höre ich sogar Fehler.“

Nikolaus Harnoncourt paraphrasierend meint Tomas Dratva, dass wir am Beginn künstlerischer Prozesse „gar nicht wissen, was uns erwartet“. Es sei als Pädagoge eine sehr schöne Erfahrung, mitzuerleben, dass die Schülerinnen und Schüler mit ihren Stücken angekommen sind.“ Dieses Ankommen meint wohl Ähnliches wie das Antworten bei Waldenfels. Ergo, es ist ein echter Dialog entstanden. Und dieser Dialog impliziert die Frage nach dem Wesen von Musik, nach Kategorien, nach der Schwierigkeit über Musik zu sprechen. In der abschliessenden Diskussion kam dieses Phänomen nochmals zum Tragen. Wurde von den Schülerinnen und Schülern im Verlauf des Abends die gespielte Musik immer wieder in Vergleich zu „normaler Musik“ gestellt, entstand die Frage, was denn „normale Musik“ sei und mehr noch, mit welchem Adjektiv dann „die andere“ charakterisiert werden könne. Und wieder sind wir mitten drin in der spannenden Forschung, im Suchen und Graben nach Verständnis, Begriffen und Erkenntnis. Was ist also „normale Musik“? Es sei, so die Schülerinnen und Schüler, bei „normaler Musik“ ein „nicht so intensives Zuhören“ nötig. „Normale Musik“ habe eine Struktur. Im Gegensatz dazu verlange die „andere Musik“ ein aktives Zuhören, sie sei frei, neu und ungewöhnlich und brauche daher Gewöhnung. Wie meint einer der jungen Musiker: Er müsse sich ein Bild machen. Eine andere spricht von der „Schulung“ des Ohres ausserhalb von Dur und Moll. Wieder ein anderer vergleicht die Neue Musik mit der Abstrakten Kunst und verweist auf das Phänomen der Reibung. Es darf als Fazit also gesagt sein: Diese „andere Musik“ fordert uns heraus und lehrt uns das Zuhören, das Horchen, das Lauschen – eine Fähigkeit, die unser Mensch-Sein doch essentiell auszeichnet und vielleicht gegenwärtig auch einer Gefahr ausgesetzt ist.

Am seidenen Faden zu hängen, Schülerinnen und Schüler auf neue Bahnen zu ver-rücken, ist wohl ganz schön verrückt. Es erfordert Mut und Courage, Lust am Experiment, an der Begegnung mit dem Fremden und trägt ein gewisses Gefahrenpotential in sich. Aber was wäre eine Welt ohne Wagnis? Gerade auch in der Musikpädagogik. Ist die Musikpädagogik auch immer Arbeit mit Kunst und an der Kunst, müssen die ausgetretenen Wege geradezu verlassen werden, braucht es die Instabilität? Abschliessend noch einmal Bernhard Waldenfels: „In einer Zeit, in der man gern alles zum Anfassen nahe haben möchte, sollten Kunsterzieher auf einer radikalen Fremdheit der Kunst bestehen“. Beständigkeit am Künstlerischen führt zu Erfahrungen und Entwicklungen – „Ich musste aus mir herausgehen“, resümiert ein Schüler. Dieses Wagnis des „Nicht-Locker-Lassens“ und die Möglichkeit des „Dranbleibens“ und das Potential im Antworten auf das Sperrige haben uns Tomas Dratva und seine Schülerinnen und Schüler eindrücklich und lebendig vorgeführt.

Dr. Teresa Leonhard | ISEK 

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