Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen können hinsichtlich ihres biologischen, kognitiven und emotionalen Entwicklungsalters Unterschiede aufweisen. Diese Diskrepanzen führen nicht selten zu innerpsychischen Spannungen, die sich in Kombination mit Überforderungen im Alltag und in Interaktionen begünstigend auf die Entstehung von herausfordernden Verhaltensweisen und psychischen Beeinträchtigungen auswirken. Das Wissen um den emotionalen Entwicklungsstand einer Person gilt als «Schlüssel» zur Erklärung von Verhaltensauffälligkeiten.
Mit der Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED-2) nach Tanja Sappok, Sabine Zepperitz, Filip Morisse, Brian Fergus Barrett und Anton Došen (2023) besteht ein Instrument, mit dem man den aktuellen emotionalen Entwicklungsstand und die dazugehörigen emotionalen Bedürfnisse erheben kann.
Eine gezielte Berücksichtigung und Einbeziehung des sozio-emotionalen Entwicklungsstands ermöglicht einen veränderten, ganzheitlichen Blick auf Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Indem ihre individuellen emotionalen Bedürfnisse differenziert wahrgenommen und eingeordnet werden, bietet sich die Chance, Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen bedürfnisorientiert und entwicklungsbasiert zu begleiten. Mithilfe der Einschätzung der emotionalen Entwicklung können herausfordernde Verhaltensweisen besser verstanden, Über- oder Unterforderungen vermieden und zielgerichtete Handlungsideen für passende Angebote erarbeitet werden. Der emotionalen Entwicklungsstand einer Person sollte daher die Grundlage für individualisierte Begleitangebote resp. Interventionsplanungen sein.
An dieser Fachtagung werden einerseits Expert:innen aus verschiedenen Perspektiven über SEED und entwicklungsbasiertes Arbeiten in der Praxis informieren. Andererseits wird dieses Wissen zu SEED in fünf spannenden Workshops zu unterschiedlichen Themen praxistauglich und handlungsorientiert aufbereitet.
So können Sie und Ihre Kolleg:innen am Ende der Tagung Ideen, Anregungen und konzeptionelle Ansätze für gelingendes entwicklungsbasiertes Arbeiten mitnehmen.
Programm
08.45
Ankunft, Anmeldung, Kaffee und Gipfeli
09:15
Begrüssung und Einführung ins Tagungsthema Prof. Dr. Eva Büschi, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Prof. Dr. Stefania Calabrese, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
09:30
Emotionale Entwicklung und psychische Gesundheit bei Menschen mit neuronalen Entwicklungsstörungen (online via Live-Übertragung) Univ.-Prof. Dr. med. Tanja Sappok, Universität Bielefeld, Direktorin der Universitätsklinik für Inklusive Medizin
10:30
Pause
11:00
Welche entwicklungsgerechten Raum- und Strukturierungskonzepte brauchen Menschen mit schweren Beeinträchtigungen? Ein Praxisbeispiel aus dem Atelierbereich der Stiftung Faro. Daniel Schoch, Leiter Wohnen, Mitglied der Geschäftsleitung, Stiftung FARO in Windisch
11:45
SEED in der Heilpädagogik - ein Weg für einen entspannteren Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung Eva Ruchti, MA, Dozentin, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HFH, Zürich
Es wird auf die Anwendung des Modells der emotionalen Entwicklung bei der Erstellung von Unterstützungsmassnahmen für Menschen mit Autismus eingegangen. Zudem werden Herausforderungen der SEED-Evaluation bei Menschen mit Autismus ebenso aufgezeigt wie Möglichkeiten, die die Umsetzung von Fördermassnahmen auf der Grundlage des Modells der emotionalen Entwicklung bietet.
Mirka Schulz, systemische Therapeutin, systemische Sexualtherapeutin (therapie-auf-augenhoehe.de), Projektleitung der Beratungsstelle und Partner*innenvermittlung Traumpaar der Lebenshilfe Berlin
Die Art und Weise Sexualität zu erleben und zu äussern ist sehr individuell und vielfältig. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen durchlaufen die gleichen sexuellen Entwicklungsphasen wie alle Menschen, wenn auch teilweise langsamer oder unvollständig. Die emotionalen, kognitiven und sozialen Dimensionen der sexuellen Entwicklung können jedoch in einem jeweils anderen Entwicklungsalter liegen. Dagegen entsprechen die biologischen, hormonellen, körperlichen Reifungsprozesse in den meisten Fällen dem tatsächlichen Lebensalter. Nicht selten kommt es zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen, die jedoch nicht mit der Sexualität in Zusammenhang gebracht werden. Die Diskrepanzen in den Entwicklungsbereichen und die daraus resultierenden widersprüchlichen Interessen und Bedürfnisse können vielfältige Irritationen, Überforderungssituationen und Missverständnisse bei den Betreffenden und deren Umfeld auslösen. Darum soll es in diesem Workshop gehen.
Prof. Dr. Eva Büschi und Prof. Dr. Stefania Calabrese
Das Wissen um den emotionalen Entwicklungsstand einer Person kann als «Schlüssel» zum Verständnis von herausforderndem Verhalten – wie Selbstverletzung, Fremdverletzung oder Sachbeschädigung – betrachtet werden. Ein vertieftes Verstehen bildet die Grundlage für einen adäquaten und professionellen Umgang damit. Abhängig vom emotionalen Entwicklungsalter lassen sich SEED-basierte Massnahmen ableiten, die situativ und nachhaltig zur Reduktion von herausforderndem Verhalten beitragen können, indem eine entwicklungsorientierte (päd-)agogische Begleitung ein Mehr an Lebensqualität sowie eine Anregung zur Persönlichkeitsentwicklung begünstigt. Im Workshop werden entlang der verschiedenen SEED-Phasen Ansätze zur Prävention, Deeskalation und Nachsorge vorgestellt und anhand von Fallbeispielen praxisnah diskutiert.
Dr. Mariana Kranich, Psychologin/Dipl. Psychogerontologin
Ausgehend von der Tatsache, dass kognitive und emotionale Fähigkeiten eng miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen, kann die Annahme aufgestellt werden, dass eine Demenz nicht nur zu rückläufigen Entwicklungen auf kognitiver, sondern auch auf emotionaler Ebene führt. Auch wenn es in der Begleitung von Personen mit einer Demenz, mit oder ohne intellektuelle Beeinträchtigung, ein besonders wichtiges Anliegen ist, diesen Personen als Erwachsene mit einer langjährigen Biografie zu begegnen, kann eine Reflexion mit Hilfe der SEED – Skala der emotionalen Entwicklung und Diagnostik – über die demenzbedingten Auswirkungen auf die emotionale Kompetenz und die damit einhergehenden möglichen Bedürfnisse wichtige Anregungen für die Betreuung bieten.
Schwerpunkte:
Anzeichen einer Demenz
Demenz als fortschreitender Prozess
Auswirkungen einer Demenz auf die Objektpermanenz, Theory-of-Mind und Affektregulation
Entwicklungsgerechtes Belgleiten von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und Demenz
Dr. phil. Anne Styp von Rekowski, eidg. anerkannte Psychotherapeutin in selbständiger Tätigkeit,Clinical Team Lead bei Lyra Schweiz GmbH
In diesem Workshop soll es darum gehen, wie Symptome ausgewählter psychischer Störungen das SEED-Profil einer Person mit Störung der Intelligenzentwicklung (SIE) beeinflussen können. Hierfür werden zuerst kurz die psychopathologischen Besonderheiten psychischer Störungen bei Personen mit SIE in den Blick genommen. Dann werden diese in Beziehung gesetzt zu Items der SEED in den verschiedenen Phasen der Entwicklung. Es wird erarbeitet, inwiefern ein SEED-bezogener Betreuungsansatz die psychotherapeutische Behandlung von Personen mit SIE unterstützen kann. Zudem werden Erfahrungen ausgetauscht, an welchen Punkten man mit dem SEED-Ansatz bei der Begleitung psychisch Erkrankter an Grenzen gestossen ist.