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11.5.2023 | Hochschule für Soziale Arbeit

Frei und doch in einer Form

Die Soziale Arbeit verändert sich und damit auch die Art und Weise, wie Studierende lernen und Dozierende lehren. In der Freiform haben Bachelor-Studierende an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW den grössten Gestaltungsspielraum – und die grösste Verantwortung. Wer etwa Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung begleiten und unterstützen möchte, muss viel über sich selbst lernen und Eigeninitiative haben. Beides wird in der Freiform besonders gefördert. Beim Verein für Sozialpsychiatrie Baselland unterstützen Fachpersonen aus der Praxis die angehenden Sozialarbeiter*innen und entwickeln dabei einen gemeinsamen Weg, bei dem schlussendlich alle lernen. So hat die Freiform das Potenzial, den Beruf der Sozialen Arbeit weiterzuentwickeln.

Im Machwerk in Liestal stehen selbstgemachte Holzblumentröge im Hof, eine Auswaschwanne, Steine, Bleche und Stahlstreben, aber auch Stühle und ein Baumstamm mit Sitzmulden. In den Fluren und Räumlichkeiten hängen Fotografien, farbenfrohe Bilder und bunte Textilkunst, ein Sofa im Eingangsbereich lädt zum Verweilen ein. Alles hier zeugt von Arbeit und Austausch, von der Freude am Schaffen, von Kreativität und Begegnungen. «Das Machwerk ist ein Ort, an dem Menschen mit psychischer und psychosozialer Beeinträchtigung Struktur finden und ihre Tage vielseitig gestalten können. Neben dem kreativen Schaffen spielen das Finden und Pflegen von sozialen Kontakten eine wichtige Rolle», sagt Vanessa Herzig, Arbeitsagogin im Verein für Sozialpsychiatrie Baselland (VSP). Seit vielen Jahren arbeitet der VSP mit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in der praktischen Ausbildung von Studierenden zusammen und war einer der ersten Praxispartner der «Freiform». Bei dieser neuen Studienform im Bachelor-Studium Soziale Arbeit der FHNW gibt es keinen «klassischen» Lehrplan, sondern die Studierenden steuern ihren Lernprozess selbstorganisiert und interessengeleitet. Je ein Coach aus Praxis und Hochschule unterstützt sie dabei.

«Aus eigenem Antrieb lernen»

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Verein für Sozialpsychiatrie Baselland: Vanessa Herzig, Arbeitsagogin und Rick Nellestein, Sozialarbeiter und Praxis-Coach (Foto: Sabine Goldhahn)

Herzig hat Studierende schon 2020 in der Praxisphase begleitet, als die Freiform noch ein Pilotprojekt war und die VSP-Praxis-Ausbilderin Claudia Voegelin sie angefragt hat. «Am Anfang wussten wir nicht, worauf wir uns einlassen», erinnert sich Herzig. «Aber mich hat die Idee begeistert: weg von dem klassischen Schulsystem, weg von ‹das muss ich wissen›, und hin zu ‹das macht mir Freude und darauf möchte ich mich konzentrieren›. Da ist die Eigenmotivation viel grösser.» Ihre erste Freiform-Studentin baute ein Projekt gegen Food Waste auf, das heute unter dem Namen «Lecker-Bissen» läuft. Dort werden noch einwandfreie Lebensmittel, die wegen des abgelaufenen Verfallsdatums oder kleiner optischer Mängel weggeworfen werden sollen, von Menschen mit Beeinträchtigung weiterverwertet. Der Projektvorschlag kam vom VSP, doch die Studentin überlegte sich selbst, wie sie die Menschen im zweiten Arbeitsmarkt mit einbeziehen und fördern kann. Doch welche Kompetenzen braucht es dafür? Hier stand Herzig mit ihrer langjährigen Berufserfahrung der Studentin zur Seite, gemeinsam mit einem Coach von der FHNW. Im Freiform-Studium werden Entscheidungen generell zu dritt getroffen – im Trialog. Die Selbstständigkeit und Eigeninitiative der Studentin beeindruckten Herzig: «Sie hat sich überlegt, was sie mit dem Projekt gegen Food Waste erreichen möchte, es umgesetzt und dafür gesorgt, dass dieses neue Angebot auch nach aussen sichtbar wurde.»

Freiheit und Struktur

Viele Freiform-Studierende denken und handeln so eigenständig. Ihr Studium bietet ihnen viel Freiheit, den eigenen Weg zu finden. Diese Freiheit kann aber auch überfordern. Vor allem am Studienanfang, wenn sie frisch von der Schule kommen und beispielsweise zum ersten Mal Umgang mit beeinträchtigten Menschen haben. Dann braucht es Orientierung und Struktur, damit die Studierenden mitentscheiden können, welches individuelle Profil sie gerne im Lauf ihres Bachelor-Studiums entwickeln würden. Sei es Selbstreflexion, Prozessgestaltung, Kooperation oder ein anderer Kompetenzbereich der Sozialen Arbeit – die Coaches helfen dabei. Der Sozialarbeiter Rick Nellestein ist Praxis-Coach beim VSP. In dieser Rolle ist er Ansprechpartner und Begleitperson für die Kompetenzentwicklung von Studierenden während des gesamten Studiums. «Im ersten Coaching-Gespräch Anfang 2022 habe ich festgestellt, dass die Studentin bereits über viel Expertise zur Freiform verfügt. Ich habe die Perspektive aus der Praxis eingebracht. Wir haben viel über Persönlichkeitsentwicklung gesprochen, wie man an sich arbeitet und mit sich.»

Jeder Praxis-Coach der Freiform hat verbindliche Aufgaben. Dazu gehören beispielsweise Standortgespräche, die Planung des Studienverlaufs oder die Beurteilung des Portfolionachweises. Hinzu kommen Treffen mit anderen Coaches, mit Dozierenden der FHNW und Schulungen. Das ist sehr viel Arbeit, doch «die Freiform hängt wesentlich von der Qualität ihrer Coaches ab», findet Nellestein. Freiform klingt nach Freiheit und Leichtigkeit, aber erst die Form entscheidet über den Erfolg. So kommt auch das Studium der Freiform nicht ohne Regeln aus, wie zum Beispiel Abläufe organisiert und Entscheidungen getroffen werden oder wie die Qualität der Coaches sichergestellt wird. Nellestein gefällt die komplexe Organisation, weshalb er als VSP-Vertreter selbst an deren Steuerung mitarbeitet: «Die Freiform ist in Kreisen organisiert. Jeder Kreis hat seinen eigenen thematischen Zuständigkeitsbereich und ist mit den anderen Kreisen verbunden. Ein Kreis ist zuständig für die Organisation der Bündnisse, ein anderer für den Coaching-Prozess, die Organisation des Marktplatzes oder anderes. Die Kreise bestehen aus Teams mit Vertreter*innen aus der Praxis, der Hochschule und Studierenden. Die Grundidee ist ein hoher Grad der Mitbestimmung und der Mitwirkung. So entscheiden Studierende über Finanzen mit und die Praxispartner über Lernkonzepte. Grundsatzentscheidungen haben immer Auswirkungen auf das ganze Modell.»

Neue Perspektiven

Mit dieser Organisation passe die Freiform sehr gut zur Sozialen Arbeit, findet Nellestein: «Eigenständigkeit und Mitbestimmung sind zentrale Themen, die uns in unserem Berufsalltag im VSP beschäftigen.» Der VSP möchte Rahmenbedingungen weiterentwickeln, die Menschen mit Beeinträchtigungen oder in schwierigen Lebenslagen dabei unterstützen, selbstständig zu leben. Daher ist die Expertise der Nutzer*innen für die konzeptionelle Gestaltung der Angebote entscheidend. Der VSP hat deshalb gerade selbst ein entsprechendes Projekt in der Freiform gestartet: Er will die eigene Organisation darin bestärken, die Perspektive jener Menschen einzuholen, die ihre Angebote nutzen. «Ich würde mir wünschen, dass die Adressat*innen der Sozialen Arbeit vermehrt in der Freiform mitwirken», sagt Nellestein. «Das hätte verschiedene positive Aspekte: Einerseits können die Personen in der Community der Freiform Fuss fassen. Andererseits erfahren sie mehr über die Ausbildung in der Sozialen Arbeit, die auch in ihrem Auftrag handelt. So sind sie imstande, die Soziale Arbeit bei ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen.» Eine Idee, die wegweisend ist. Genau das macht den Reiz der Freiform für Praxispartner wie den VSP aus: Ideen einbringen, gemeinsam Für und Wider diskutieren und gemeinsam eine Lösung finden. Für Nellestein bedeutet dies zwar etwas mehr Arbeit, aber vor allem weitere spannende Aufgaben. So findet er: «Ich würde immer wieder in der Freiform mitmachen und möchte weitermachen.» Denn die Freiform spiegelt für ihn in der Ausbildung wider, was den Kern der Sozialen Arbeit ausmacht und wie sie sich weiterentwickeln kann: Alle beteiligten Stellen werden einbezogen und dürfen mitentscheiden. Alle lernen und erweitern ihre Perspektive.

Weitere Informationen

In der Freiform ist (fast) alles anders. Erfahren Sie mehr, wie sich Praxisorganisationen aktiv an Lernsettings beteiligen können.

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