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31.8.2023 | Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation

Lebensqualität versus Lebensschutz: Studie zu Menschen mit Beeinträchtigungen während der Covid-19-Pandemie

Ein Forschungsteam der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW hat im Auftrag des BAG eine Studie zu Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen während der Covid-19-Pandemie erarbeitet. Darin formulieren die Forschenden 15 Empfehlungen, die während einer Pandemie beachtet werden sollen.

Wordcloud der Studie

Während der Pandemie mussten Leitende von Institutionen der Behindertenhilfe ein ethisches Dilemma bewältigen: eine möglichst hohe Lebensqualität der Bewohner*innen erhalten und gleichzeitig einen möglichst hohen Schutz vor der Krankheit gewähren. Eine mögliche Definition von Lebensqualität, hier von Monika Seifert, umfasst:

1) emotionales, körperliches und materielles Wohlbefinden;
2) persönliche Entwicklung und Selbstbestimmung;
3) zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Teilhabe.

Diese Begriffsdefinition wurde auch für diese Untersuchung verwendet. Während der Covid-19-Pandemie gab es (auch) für Menschen mit Beeinträchtigungen Einschnitte in allen genannten Aspekten. Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW hat nun im Auftrag des BAG eine Studie veröffentlicht, in der Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen in Wohninstitutionen erfragt wurden. Sie ist damit eine der bisher wenigen Studien, die, neben einer Recherche der wissenschaftlichen Literatur zum Thema, direkt Erfahrungen von Betroffenen miteinbezieht, entsprechend der Forderung von Selbsthilfeorganisationen «nothing about us without us». Als Ergebnis konnten 15 Empfehlungen an Bund und Institutionen formuliert werden, wie bei einer Pandemie die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen mit Schutzmassnahmen künftig besser vereinbart werden können.

Selbstbestimmungsrecht oder Fürsorgepflicht?

Menschen mit Beeinträchtigungen in Wohninstitutionen waren einer vierfachen Gefährdung ausgesetzt: erhöhten Gesundheitsrisiken, kollektiven Wohnsituationen, Einschränkungen bei der Kommunikation und fehlendem Zugang zur Gesundheitsversorgung. In der Schweiz betraf dies rund 25'000 Menschen, die meisten davon mit kognitiven Beeinträchtigungen. Diese Ausgangslage stellte Wohninstitutionen vor ein Dilemma: Einerseits verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention zur vollen und gleichberechtigten Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten. Andererseits besteht eine Fürsorgepflicht. Es galt also Partizipation, Inklusion, ein Recht auf Leben und ein Höchstmass an Gesundheit ohne Diskriminierung aufeinander abzustimmen. Diese Spannung besteht während «normalen» Zeiten ebenso, hat sich aber in der Covid-19-Pandemie deutlich verstärkt.

Erfahrungen aus der Pandemie

Eine Wohninstitution vereint gleichzeitig Arbeit (Tagesstruktur), Freizeit und Rückzugsort. Entsprechend waren die Schutzmassnahmen in all diesen Lebensbereichen einschneidend. Zwar fühlten sich die meisten Bewohner*innen gut vor dem Virus geschützt, schätzten die Bemühungen der Begleitpersonen trotz Einschränkungen eine Tagesstruktur aufrecht zu erhalten und einige empfanden die Zeit auch als ruhiger und weniger stressig. Die Schutzmassnahmen gingen aber für viele mit einer markanten Verschlechterung der Lebensqualität einher. Besonders einschneidend war der Verlust der Bewegungsfreiheit und die mangelnde Beschäftigung tagsüber. Viele fühlten sich eingesperrt oder vergessen, konnten mit engen Bezugspersonen keinen Face-to-face-Kontakt haben, was zu Einsamkeit und Langeweile, mangelnder Bewegung oder Konflikten in der Wohneinheit führte. Kritisiert wird insbesondere, dass nicht auf die unterschiedliche Gefährdung einzelner Personen geachtet wurde. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen seien keinem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt gewesen, dennoch seien keine Abstufungen in der Strenge der Umsetzung vorgenommen und wichtige Informationen zur Situation von Behörden/Institutionsleitenden nicht in leichter Sprache kommuniziert worden.

15 Empfehlungen zur Verbesserung

Aus den Erfahrungen der betroffenen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und deren Angehörigen, sowie weiterführenden Literaturstudien und Expert*innenworkshops konnten 15 Empfehlungen formuliert werden. Wichtig dabei ist, dass zukünftig die Behindertenverbände, Betroffenen und Angehörigen in die Ausarbeitung von Schutzkonzepten und -massnahmen miteinbezogen werden. Ein nach Gefährdung differenzierterer Massnahmenkatalog, eine stärkere Gewichtung von emotionalen, psychischen und sozialen Gesundheitsaspekten und eine angemessene Kommunikationsweise sind weitere Empfehlungen, die sich aus der Untersuchung ableiten lassen.

Die gesamte Studie und alle Empfehlungen können unter Forschungsprojekte und Literaturrecherchen zu Covid-19 (admin.ch) oder direkt hier heruntergeladen werden.

Download Studie Lebensqualität versus Lebensschutz bei Menschen mit Beeinträchtigungen während der Coivd-19-Pandemie

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