TGV Basel-Paris: Drei Stunden. Wildschweinkollisionen: Hoffentlich keine.
Das richtungsweisende System von FHNW-Geomatiker Adrian Meyer hilft, Wildtier-Unfälle in Frankreich zu verhindern. «Eine höchst fruchtbare Zusammenarbeit», sagt die SNCF.
Adrian Meyers Beruf ist aussergewöhnlich. Er ist Geomatiker (Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW), Tierbiologe (Uni Basel), dazu hat er Sinn für Datenwissenschaft und KI. Dies hat er zu einer neuartigen Expertise zusammengeführt, die viel Nutzen generiert. «Datenwissenschaft», sagt Meyer, «ist spannend, wenn man in der realen Welt etwas Sinnvolles damit anstellt. Beim Naturschutz sehe ich viel Potential.»
Seine aktuelle Forschungsarbeit zeigt, was das konkret bedeutet. Im Auftrag des französischen Bahnbetreibers SNCF hat Adrian Meyer ein System kreiert, das mit hoher Präzision die Gefahrenzonen für Wildschwein-Kollisionen auf dem französischen Bahnnetz sichtbar macht. Das befähigt die SNCF, auf ihren 28 000 Kilometern Schienennetz punktgenau geeignete Massnahmen zum Schutz von Tier und Infrastruktur zu treffen.
Wie kam es dazu? Auf der Suche nach einem Wissenschaftspartner war die SNCF im Internet auf Meyer gestossen. In einem Projekt hatte dieser im Auftrag der Stiftung Wildtiere Aargau dazu beigetragen, Rehkitz-Unfälle mit Mähdreschern zu vermeiden. Meyer erklärt: «Es ging darum, die Populationsschätzung von Wildtieren kantonsweit aufzubauen und diese Schätzungen methodisch zu vereinfachen.» Meyer setzte Wärmebilddrohnen ein und programmierte einen Algorithmus, der das Rehkitz-Vorkommen automatisch auf den Wärmebildern erkennt.
So etwas schwebte auch der SNCF vor. Auf dem Schienennetz Frankreichs kommt es jedes Jahr zu rund tausend Zugkollisionen mit Wildschweinen – Tendenz stark steigend. Solche Unfälle kommen die SNCF teuer zu stehen. Sie verursachen Zugverspätungen sowie beachtliche Schäden an Triebfahrzeugen. Auch sollen die Tiere nicht so verenden.
Meyer war rasch klar: Mit Wildschweinen verhält es sich anders als mit Rehkitzen. Wildschweine sind dynamischer unterwegs als Rehkitze, die sich bei Gefahr instinktiv ducken. «Wie kann ich also herausfinden, wo sich Wildschweine höchstwahrscheinlich aufhalten, ohne 28 000 Kilometer Schienen abzulaufen?» Der Use-Case war umfangreich, weshalb Meyer ihn zum Thema seines Doktorates machte (Fakultätsanbindung: Universität Zürich).
Nach zwei Jahren Forschungsarbeit und zahlreichen Aufenthalten in ganz Frankreich kenne er die Hotspots ziemlich genau, erzählt Meyer. Nachts sind Wildschweine gefährlich, doch tagsüber seien dies scheue und überaus schlaue Tiere, die um Menschen einen weiten Bogen machen. «Um Jäger übrigens auch!»
Meyers Vorgehen: Er erfasste relevante Daten, um zuverlässige Prognosen für das ganze Land machen zu können. Als erstes half der Speiseplan der Wildschweine. Rund um Mais, Raps, Kastanien, Eicheln und Buchennüsschen würde man die Tiere mit Sicherheit antreffen. Anhand von ESA- und NASA-Satellitendaten identifizierte Meyer mit Geomatik-Methoden die von den Wildtieren bevorzugten Gebiete wie Ackerland oder feuchte Waldrandzonen.
Dann gab es die sichtbaren Spuren im Gelände – Datenwissenschaftlich wahre Fundgruben. «Auf ihren Streifzügen hinterlassen Rotten auf dem Bahnschotter Schlammspuren und drücken diesen mit der Zeit ein. Der Schotter ist an diesen Stellen heller. Zusammen mit Geomatik-Studierenden programmierten wir eine KI, die auf Bilddaten verfärbten Schotter erkennt.» Jagd- oder Unfallstatistiken, Daten zu Geländestruktur und Niederschlag halfen bei der noch genaueren Eingrenzung.
Das war noch nicht alles. «Das Auffinden der Wildschweine-Hotspots bedeutet nicht, dass es dort automatisch zu Kollisionen kommt», erläutert Meyer. Es mussten zusätzlich bahnrelevante Informationen integriert werden, etwa Zuggeschwindigkeit oder die Anzahl Züge pro Tag. «Nur das Gesamtbild lässt verlässlich aufs Unfallrisiko schliessen.»
Besonders anspruchsvoll war es, die verbauten Schutzzäune zu detektieren, sagt Meyer. Denn wo solche vorhanden und intakt sind – typischerweise auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken –, ist die Unfallgefahr gering. Wieder war Erfindertum gefragt. Meyer und seine Assistierenden entwickelten am Institut für Geomatik der FHNW eine KI, um diese Zäune zu finden und kartografisch darzustellen.
Das Endergebnis ist eine sog. Risikomodellierung, die landesweit, auf 100 Meter genau, die riskanten Unfallstellen anzeigt.
Zuhanden der SNCF stellte Meyer mehrere Karten bereit und unterschied zwischen Sommer und Winter. Die Unterscheidung nach Jahreszeit ist zentral, weil sich Wildschweine im Sommer eher in den Agrarfeldern, im Winter in Wäldern aufhalten. Die Winterkarte ist für die SNCF besonders wichtig, weil es in den Monaten Oktober bis März fünfmal mehr zu Unfällen kommt.
«Wir sehen die Resultate einer höchst fruchtbaren Zusammenarbeit», sagt auf Anfrage Maxime Gombart, Wildtier-Referent, Technische Leitung Netzbetrieb bei SNCF Réseau. «Adrian Meyers aussergewöhnliche Expertise aus der Kombination von Tierbiologie, Geomatik und Künstlicher Intelligenz sind für die Sicherheit der SNCF-Anlagen von hoher Relevanz. Wir können die Ergebnisse seiner Arbeit in unsere Geschäftsprozesse integrieren und als nächstes in den auf diese Weise identifizierten Gefahrenzonen geeignete Schutzmassnahmen ergreifen.»
Projektbeschreibung am Institut für Geomatik, Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW