«Irgendwann wird es so weit sein, dass ChatGPT auch in Maturprüfungen genutzt werden darf.»
Wie ist es, als erster kompletter Jahrgang digitale Maturprüfungen zu schreiben? Was ändert sich bei der Prüfungsvorbereitung? Worüber machen sich die Schüler*innen Sorgen? Und: Welche Rolle spielt ChatGPT? Fünf Maturand*innen des Gymnasiums Kirschgarten geben wenige Monate vor ihrer Matur Einblicke in ihre Gedanken.
Jaël Moser, Arielle Schnyder, Ian Brouwer, Quentin Gstöttmayr und Lennart Jakobsen besuchen verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Schwerpunktfächern am Gymnasium Kirschgarten. Zum Zeitpunkt des Gesprächs sind es noch rund zehn Wochen bis zum Prüfungsbeginn. Sie äussern sich offen und überlegt …
… zu den digitalen Maturprüfungen im Allgemeinen:
Jaël Moser: Bei mir kommt es auf das Fach an. Dass wir die Aufsätze in den Sprachen am Computer schreiben können, finde ich gar nicht schlecht. Da muss man keine Reinschrift mehr machen und kann Textblöcke beliebig verschieben. In meinem Schwerpunktfach Biologie und Chemie ist es so, dass die Multiple-Choice-Fragen digital sind. Der zweite Teil, in dem wir Reaktionsgleichungen oder Ähnliches lösen müssen, ist dann auf Papier. Ich persönlich hätte im Schwerpunktfach lieber alles auf Blatt, weil ich es einfacher finde, mir Notizen zu den jeweiligen Fragen zu machen.
Arielle Schnyder: Das ist auch etwas, was mir beim Digitalen fehlt, eine Möglichkeit, sich schnell Notizen zu machen.
Ian Brouwer: Ich finde es ebenfalls cool, dass wir die Aufsätze am Computer schreiben dürfen. Obwohl Schüler*innen, die das Zehnfingersystem gut können, einen Vorteil haben. Das haben wir in der Schule aber nie gelernt. Das irritiert mich ein wenig. In unserem Schwerpunktfach Physik und Anwendungen der Mathematik dürfen wir wahrscheinlich Apps wie GeoGebra nutzen. Das ist ein Programm, mit dem man Funktionen aufzeichnen kann. Das ist sehr hilfreich.
Quentin Gstöttmayr: In den Sprachen vereinfacht die digitale Prüfung viel, aber in den anderen Fächern ist es grösstenteils einfach so, dass man die Fragen nun am Computer löst und nicht mehr auf einem Blatt. Dennoch bin ich ein Befürworter der digitalen Matur. Ich habe auch Biochemie. Ich weiss nicht, wie die Biochemie-Prüfungen früher waren, aber ich finde es cool, dass wir einen einstündigen digitalen Grundlagenteil haben. Es geht um die Basics und es sind eher Multiple-Choice-Fragen.
Lennart Jakobsen: Ich habe letztens mal einen Aufsatz auf Englisch am Computer geschrieben. Das war sehr angenehm. Als wir dagegen eine Probeprüfung im Schwerpunktfach am Computer geschrieben haben, fand ich das eher blöd. Es gab nur Multiple-Choice-Fragen, Aufgaben, bei denen man einen Text schreiben musste oder die Aufgabe, ein Molekül auf ein Blatt zu zeichnen und die Zeichnung dann hochzuladen. Aber bei solchen Aufgaben sehe ich den Sinn einer digitalen Prüfung nicht.
… zu technischen Bedenken:
Jaël Moser: Bei etwas Neuem ist man ist ja immer nervös, das ist klar. Aber die Schule hat Ersatz-Laptops bereit…
Quentin Gstöttmayr: … ja, einen pro 10 Schüler …
Jaël Moser: … und es gibt im Vorfeld einen Safty-Check, damit der Browser nicht abstürzt.
Quentin Gstöttmayr: Eine Woche vor der Prüfung wird ein Check gemacht, ob die eigenen Geräte alle auf dem neusten Stand sind. Denn wenn der Safe-Exam-Browser startet und gleichzeitig ein Update läuft, kann es zu Abstürzen kommen.
Arielle Schnyder: Es kann aber trotzdem sein, dass etwas nicht funktioniert. Wir haben in den letzten zwei Jahren immer wieder digitale Prüfungen geschrieben, vor allem Aufsätze. Manchmal kommt es einfach vor, dass sich der Safe-Exam-Browser nicht öffnen lässt und man stattdessen vor einer roten Fehlermeldung sitzt.
Quentin Gstöttmayr: Für solche Fälle ist es dann eben wichtig, dass eine Hilfestruktur besteht und funktioniert. Aber das können wir nicht wirklich beeinflussen. Das ist Sache der Schule. Zudem ist wichtig, dass alle Strom haben.
Ian Brouwer: Und sollte die Infrastruktur wirklich einmal ausfallen, braucht es ein Backup – oder zumindest genügend ausgedruckte Prüfungen für alle.
… zur technischen Vorbereitung:
Quentin Gstöttmayr: Wir haben in den vier Jahren am Gymi alle Aufsätze in Deutsch digital geschrieben. Auch in Biologie haben wir viel online gemacht. Und in Französisch dieses Jahr ebenfalls einiges. In Deutsch haben wir vom ersten Jahr an sehr viel mit Exam-Net gearbeitet. Vor allem seit wir den Safe-Exam-Browser benutzen, funktioniert es ziemlich gut. In Biologie haben wir oft isTest verwendet. Auch damit die Lehrpersonen allfällige Bugs entdecken konnten. An den Maturprüfungen sollte das also schon funktionieren.
Ian Brouwer: In unserer Klasse ist das schon ziemlich anders. Wir schreiben vor allem seit diesem Jahr die Prüfungen digital. Aber nicht alle Prüfungen, in vielen Fächern ist noch alles analog. Es gibt also schon Unterschiede, nicht alle Klassen haben gleich viel geübt. Das irritiert mich ein bisschen, ist aber eigentlich kein grosses Problem. Aber es hängt von der Lehrperson ab, wie viel Vorbereitung man hatte. Das müsste man in Zukunft besser koordinieren und kommunizieren.
… zur inhaltlichen Vorbereitung:
Quentin Gstöttmayr: Ich denke nicht, dass sich viel ändert. Das Format ist immer noch ziemlich ähnlich. Wir dürfen ja keine weiteren Hilfsmittel nutzen. Wir haben auch schon digitale Prüfungen geschrieben, in denen googeln erlaubt war. Da kann man sich dann etwas anders vorbereiten. Aber ob man die Fragen am Bildschirm oder auf dem Blatt beantwortet, macht keinen grossen Unterschied. Ich glaube, dass bei den digitalen Fragen mehr Basiswissen abgefragt wird. Aber das muss man sowieso können, damit man die Anschlussfragen lösen kann.
Jaël Moser: Ich weiss nicht, wie es bei euch war, aber bei unseren Französisch-Aufsätzen war der Übersetzer aktiv. Man kann damit immer nur ein Wort übersetzen. Das hilft manchmal. Wenn einem ein Wort nicht in den Sinn kommt, funktionieren nicht gleich ganze Passagen nicht. So kann man beim Lernen den Fokus etwas weniger auf das Wörterlernen legen und beim Aufsatz mehr auf den Inhalt und die Grammatik achten.
… zur Bewertung der Prüfungen:
Jaël Moser: Bei uns wird schon anders bewertet. Wir schreiben im Englisch Aufsätze mit Autokorrektur. Im ersten und zweiten Jahr, als wir die Aufsätze noch von Hand geschrieben haben, gab es für Fehler einen Viertelpunkt Abzug. Im dritten und vierten Jahr ist es nun ein halber Punkt. Ich persönlich finde das nicht so toll. Denn es kann sein, dass man einen Tippfehler macht und das Programm erkennt das nicht, weil es das Wort vielleicht auch gibt.
Ian Brouwer: Eigentlich macht es schon Sinn, dass man strenger bewertet, wenn man die Autokorrektur nutzen kann. Aber: Die Autokorrektur, die wir haben, ist extrem simpel. Sie schaut nur, ob es das Wort gibt. Wenn man schreiben möchte «I'm going to meet the professor» und man schreibt «meat» wie Fleisch, erkennt das Programm den Fehler nicht. Aber ich habe den Eindruck, einige Lehrpersonen denken trotzdem, dass die Autokorrektur uns einen grossen Vorteil verschafft.
Quentin Gstöttmayr: Eine Chance einer digitalen Prüfung wäre, dass sie es einfacher ermöglicht, anonym zu korrigieren. Dies wird aber bei der Matura nicht gemacht.
… zu KI-Tools in den Prüfungen und zur Vorreiter*innen-Rolle ihrer Klassenstufe:
Arielle Schnyder: Bei uns dürfen KI-Tools noch nicht eingesetzt werden. Es ist ein Thema, das diskutiert wird, aber es wird halt mega langsam umgesetzt. Wir sind die erste Klasse, die einen Computer zu den Prüfungen mitnehmen darf und die zweite Klasse, bei der «bring your own device» seit dem Anfang des Gymis gilt.
Ian Brouwer: Also im Generellen habe ich das Gefühl, unsere Klassenstufe fühlt sich wie ein Versuchskaninchen. Wir müssen immer, einen Laptop dabeihaben, aber auch Papier. Wir müssen Bücher dabeihaben, aber auch für den Online-Unterricht gerüstet sein. Das ist ein bisschen unangenehm, weil ich das Gefühl habe, dass es Unsicherheit hineinbringt. Das haben andere Klassenstufen nicht. Aber solange sinnvoll korrigiert wird, passt das schon.
Jaël Moser: Ich verstehe schon, dass du dich verunsichert fühlst. Aber irgendwann muss der Wandel durchgeführt werden. Wenn es nicht bei uns ist, dann bei der nächsten Klasse. Sonst kommt es zu keinem Fortschritt.
Ian Brouwer: Ich hoffe schon, dass unsere Erfahrungen für die Zukunft hilfreich sind. Dafür, dass wir die erste Klasse sind, fände ich es noch gut, wenn man etwas intensiver schauen würde, dass es wirklich gut läuft. Wir machen beispielsweise wenig Probedurchläufe. Ich bin aber schon zuversichtlich, dass es nicht schlecht kommt.
… zu ChatGPT im Schulalltag und neue Kompetenzen
Quentin Gstöttmayr: Vor allem in Fächern, in denen man oft Themen in der Gruppe anschaut und dann Poster oder Präsentationen macht, ist ChatGPT oft die erste Wahl, weil es viel Arbeit erspart. Die Aufgaben sind dann meistens unbenotet und Quellen und Inhalt sind meistens okay. Ich benutze es vor allem dort. Was aus meiner Sicht für ChatGPT gilt: Es ist da und man kann dies nicht mehr rückgängig machen. Aber die Reaktionen der Lehrpersonen darauf sind sehr unterschiedlich. Es gibt Lehrpersonen, die krampfhaft versuchen, es zu unterbinden. Das geht so weit, dass wir in jeder Lektion unsere Aufgaben auf ExamNet lösen müssen, weil die Lehrperson Angst hat, dass wir das Internet oder ChatGPT verwenden. Dadurch fühlt sich jede Lektion wie eine Prüfung an. Andere Lehrpersonen nehmen ChatGPT sehr gut an. Sie integrieren es in den Unterricht nach dem Motto: «Schauen wir mal, was ChatGPT dazu sagen würde.» Ich finde, das ist besser, als zu versuchen, alles zu unterbinden. Irgendwann wird es so weit sein, dass ChatGPT auch in Maturprüfungen genutzt werden darf. Dann macht es mehr Sinn, sich das jetzt schon anzueignen.
Jaël Moser: Bei mir ist es so, dass ich generell versuche, ChatGPT möglichst wenig zu benutzen. Nicht, weil ich es schlimm finde, sondern damit ich die kognitiven Fähigkeiten wie das Schreiben erhalte, weil ich das wichtig finde. Ich bin der Meinung, dass ChatGPT Interpretationen gar nicht so gut kann. Oder zumindest noch nicht. Ich benutze es manchmal, um Verständnisfragen zu klären, etwa wenn ich ein Wort nicht verstehe.
Lennart Jakobsen: Es gibt Schüler*innen, die in gewissen Fächern seit anderthalb Jahren keine Aufgabe mehr selbst gelöst haben. Ich glaube, man darf nicht davon ausgehen, dass die Schüler*innen immer die Motivation haben, etwas zu lernen …
Jaël Moser: … eigentlich sollte man schon davon ausgehen…
Lennart Jakobsen: Man sollte, aber man darf nicht. Ich finde, Lehrpersonen müssen sich, wie das schon immer war, darum bemühen, die Schüler*innen im Unterricht an Bord zu bringen. Und dafür ist es nicht dienlich, wenn sie eine Aufgabe mehr schlecht als recht, aber in zwei Sekunden ohne Eigenaufwand lösen können. Wir haben eine Lehrerin, die ChatGPT gegenüber offen ist und sogar eine Prüfungsaufgabe gemacht hat, die man mit ChatGPT lösen durfte.
Jaël Moser: Was war denn der Sinn dahinter?
Lennart Jakobsen: Man könne den Umgang damit lernen, in einer modernen, vernetzten, digitalen Welt …
Jaël Moser: Aber das ist ja genau der springende Punkt, das hat nichts mehr mit vernetztem Denken zu tun.
Quentin Gstöttmayr: Aber du lernst halt, mit KI umzugehen. Wenn du in den 1990er- und 2000er- Jahren gesagt hättest, nein, Internet müssen wir nicht lernen, das wird schon wieder verschwinden, dann wärst du heutzutage ein Boomer, der nicht weiss, wie man ein Foto macht. Ich glaube, bis zu einem gewissen Grad ist es schon klar. Theoretisch kannst du einfach die Frage in ein Tool eingeben und dann erhältst du eine Antwort. Und dann ist halt das Problem, wie prüfe ich, ob die Antwort richtig ist. Und das muss man eben üben.
Jaël Moser: Aber dann muss man es auch gekonnt in den Unterricht einbauen. Eine Prüfungsaufgabe bringt dafür nichts.
Quentin Gstöttmayr: Klar. Aber man muss ja irgendwie anfangen.
Ian Brouwer: Die ganze Diskussion bringt uns auf einen Punkt zurück: Welche Fähigkeiten sollten wir hier lernen? Es gibt immer mehr Leute mit der Idee, wir sollten neue Kompetenzen lernen. Das verstehe ich auch. Aber wenn man ans Gymnasium denkt, denkt man an vernetztes und kritisches Denken, und das hat nichts damit zu tun, wie man einen Prompt eingibt. Das ist nicht kompliziert. Das ist etwas, das man lernen kann, etwas, das Zeit braucht, aber nicht kritisches Denken fördert.
Quentin Gstöttmayr: Wenn man danach sucht, gibt es Angebote für diese neuen Kompetenzen, etwa in der Repetitionswoche oder in gewissen Modulen für die Maturarbeit. Aber meiner Erfahrung nach nicht einfach im regulären Unterricht.
Text und Foto: Marc Fischer