Skip to main content

28.6.2023 | Pädagogische Hochschule

Flucht nach vorn in der informatischen Bildung

Künstliche Intelligenz fordert die Schule heraus. Informatik-Didaktiker Urs Meyer plädiert dafür, Tools wie ChatGPT zwar zu nutzen, ihren Nutzen aber auch einordnen zu lernen. An einer Veranstaltung wurde auch darüber diskutiert, ob gewisse Lerninhalte jetzt überflüssig werden.

Urs Meyer hielt das Inputreferat am vierten Abend der Veranstaltungsreihe «Bildung für eine Welt von morgen». Foto: Thomas Röthlin

Urs Meyer hielt das Inputreferat am vierten Abend der Veranstaltungsreihe «Bildung für eine Welt von morgen». Foto: Thomas Röthlin

Was muss unsere Jugend können? Die Ausgangsfrage der vierten von sechs Veranstaltungen der Reihe «Bildung für eine Welt von morgen» – ein Projekt der Pädagogischen Hochschule FHNW und des Bildungsnetzwerks Aargau Ost – bezog sich auf die informatische Literalität auf Sek-II-Stufe. Die Frage also, wie Berufsschüler*innen und Gymnasiast*innen sich mit der Informatik und ihren Anwendungen befassen sollten, um ein «konstruktives, engagiertes und reflektierendes Mitglied unserer Gesellschaft» zu werden. So zitierte Referent Urs Meyer eine gängige Definition. Der Dozent für Fachdidaktik Informatik Sek II an der PH FHNW begreift die Disziplin als das Studium der automatischen Verarbeitung von Daten aus Informationsprozessen, die längst nicht mehr nur die Mathematik, sondern auch die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften betreffen. Die Digitalisierung bedeutet für die informatische Bildung, dass neben der rein technischen Sicht (wie etwas funktioniert) immer auch die möglichst effiziente Anwendung (Nutzerperspektive) und die kritische Reflexion von Medienprodukten (Wirkungsdimension) beachtet werden sollten.

Weg vom «Pauken»

Der Siegeszug von generativer Künstlicher Intelligenz kehrt die Ausgangsfrage um: Was muss unsere Jugend nicht mehr können? Für Urs Meyer gehört das klassische «Pauken» dazu, das mechanische Eintrichtern von Lerninhalten wie Kommaregeln, Excel-Formeln, Varianten der Dreieckskonstruktion oder zum Beispiel «Das Schreiben eines Abstracts und einer Kritik von Homo Faber». Stattdessen seien projektbasierte Fragestellungen, kreative Eigenleistungen, die Fokussierung auf Sozialkompetenzen und die Stärkung von fächerübergreifender Digital Literacy gefragt. Die Bewertung dieser Kompetenzen erfolgt mündlich, indem Schüler*innen etwas präsentieren und ihre Standpunkte mündlich «verteidigen», statt eine schriftliche Prüfung abzulegen. «Wir rutschen in der Bloom’schen Taxonomie nach oben», bemerkte ein zuhörender Informatik-Berufsschullehrer treffend. Die Lernziele bewegen sich weg vom Wissen und Verstehen hin zur Analyse und Beurteilung.

Paradox der Sprachkompetenz

Im Publikum wurde Widerspruch laut. «Lernt man mit schreiben nicht denken?», fragte ein Schulleiter rhetorisch in die Runde. Sprich: Braucht es für Textverständnis und Ausdrucksfähigkeit nicht zwingend Rechtschreibung und Grammatik? «Orientierungswissen ist auch wichtig!», pflichtete dem Votanten ein Kollege bei. Doch Urs Meyer stellte die Wichtigkeit der Sprachkompetenz gar nicht in Abrede: Ohne sie sei man nicht in der Lage, einen KI-generierten Text adäquat einzuordnen – ein Paradox, «delegiert» man doch gerade Sprachkompetenz an Tools wie ChatGPT.

Die Massentauglichkeit solcher Text-Bots haben ABB Schweiz dazu bewogen, bei Bewerbungen auf Motivationsschreiben zu verzichten. Dies berichtete Corinne Wernli, die dort das Lernenden-Programm leitet. Sie beobachte, dass die Berufslernenden in der Oberstufe im Modul Medien und Informatik sehr unterschiedlich weit gekommen seien. «Grundsätzlich sind wir mit dem Lehrplan 21 aber auf dem richtigen Weg.»

Neugier statt Technik

René Marques leitet das ICT Kompetenzzentrum Aargau, wo sich Berufsbildner*innen das nötige Rüstzeug holen können. Bis die Lernenden aus der LP21-Volksschule ein gewisses Mass an Anwenderwissen mitbrächten, dürfte es noch Jahre dauern, befürchtet er. «Aber sie müssen auch nicht schon programmieren können, wenn sie ihre Lehre beginnen», relativierte Marques, «es heisst ja nicht umsonst Grundbildung». Wichtiger als Technik sei Neugier.

Neugierig und technisch versiert ist Nils Bilang. Der lernende Automatiker EFZ bei libs (Industrielle Berufslehren Schweiz) nahm ebenfalls an der Podiumsdiskussion teil und erzählte, wie er bereits in der Schule mit der für Jugendliche konzipierten Programmiersprache Scratch gearbeitet, Office 365 kennengelernt und Spiele programmiert habe. Dieses Hobby im Lebenslauf zu erwähnen, sei früher ein Risiko gewesen, bemerkte René Marques. Heute erhöhe es die Chance auf eine Lehrstelle.

Informatik ohne Computer

Für Urs Meyer ist Game Design ein probates Mittel zur Förderung der informatischen Literalität, neben App Programming, 3D-Modelling, Robotik und vielem mehr. Die spielerische Herangehensweise an die Informatik könne, gerade in der Volksschule, aber auch ohne Computer erfolgen: mit Rollenspielen und Rätseln, welche die Funktionsweise von Rechnern imitieren (Computer Science unplugged heisst eine solche Sammlung kostenloser Lernaktivitäten).

Wie viel Orientierungswissen und Informatikkenntnisse können Volks- und Berufsschule stemmen, um die Basis für Chancengerechtigkeit auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt der Zukunft zu legen? Und wie stark überfordert Schulleitungen und Lehrpersonen die Tatsache, dass ChatGPT nach nur zwei Monaten 100 Millionen User erreichte (wofür Instagram anno 2010 noch zweieinhalb Jahre brauchte)? Wer in Erfahrung bringen wollte, was unsere Jugend (nicht mehr) können muss, dürfte an der Veranstaltung einige Gedankenanstösse erhalten haben – aber keine einfachen Rezepte.

- Thomas Röthlin - 

Diese Seite teilen: