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Wie erleben Kinder und Eltern den Kindesschutz?

Die Sichtweise des Kindes erhält im heutigen Kindesschutz trotz Bemühungen der Behörden noch wenig Gewicht. Das zeigen erste Untersuchungen von aktuellen Kindesschutzverfahren aus der Schweiz. Ein Forschungsteam der FHNW und der Universität Genf sucht nach neuen Wegen, um den Einbezug von Eltern und Kindern zu verbessern.

Ein Kind fährt auf einem Trottinett auf der Strasse.

Wie und aus welchen Gründen in der Schweiz staatliche Stellen wie Vormundschaftsbehörden in Familien eingriffen, war bis weit ins 20. Jahrhundert in den Kantonen sehr unterschiedlich geregelt. Verschiedene fürsorge- und armutsrechtliche Bestimmungen sowie eine Vielzahl kantonaler und kommunaler Umsetzungspraxen gaben den Behörden, Entscheidungs- und Mandatsträgern grosse Spielräume bei der Entscheidung, ob und wie ein Kind fremdplatziert wurde. In den letzten Jahren wurde viel darüber geforscht, unter welchen Bedingungen, mit welchen Begründungen und welchen Folgen Kinder aus ihren Familien genommen wurden, beispielsweise im Zusammenhang mit den «Verdingkindern».

Die Familien hatten kaum Einfluss auf diese Entscheidungen. Zudem war es auch nicht üblich, Kindern zu erklären, warum sie zum Beispiel in ein Heim oder eine fremde Familie gebracht wurden, oder ihre Meinung dazu zu erfragen. «Viele Menschen, die als Kind fremdplatziert wurden, sagen rückblickend, dass sie die fehlende Möglichkeit, an Entscheidungsprozessen teilzunehmen und angehört zu werden, als ähnlich traumatisch erlebt haben wie die Misshandlungserfahrungen, die sie oft machen mussten», sagt Brigitte Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Sie untersucht zusammen mit einem Forschungsteam in einem aktuellen Projekt, wie sich die Teilhabe von Kindern und Eltern im Kindesschutz in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und vor allem, wie sie heute umgesetzt und von den Beteiligten wahrgenommen wird. Ihre Kollegin Aline Schoch, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, ergänzt: «Obwohl sich im Kindesschutz bis heute sehr vieles positiv verändert hat, ist bislang wenig erforscht, wie die beteiligten Personen die Möglichkeiten zur Teilnahme an Entscheidungsprozessen nutzen und wie sie diese erleben.»

Eine neue Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde entsteht

Ab den 1980er-Jahren wurden die Gesetze unter anderem dank der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UNO-Kinderrechtskonvention nach und nach angepasst. Das Kindeswohl wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt bei Rechtsentscheiden und es wurde darüber diskutiert, wie die Perspektive von Kindern besser in Rechtsverfahren einbezogen werden kann. Nach der letzten umfassenden Gesetzesreform ist seit 2013 die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB für den Kindesschutz im zivilrechtlichen Bereich zuständig. 140 KESB lösten die bisherigen 1400 Laienbehörden ab. Eine grundlegende Veränderung in diesem Zusammenhang war die Professionalisierung der Entscheidungsbehörde. Diese wurde neu als Fachbehörde definiert, deren Entscheidungsgremium aus mindestens drei Mitgliedern bestehen muss. Dieses Gremium muss interdisziplinär zusammengesetzt sein und neben Fachvertreter*innen aus dem Bereich Recht je nach Situation Personen mit psychologischer, sozialer, pädagogischer, treuhänderischer, versicherungsrechtlicher oder medizinischer Ausbildung enthalten.

Die Beteiligung von Eltern und Kindern in Kindesschutzverfahren wurde gestärkt, indem in der Gesetzgebung ein Recht auf Anhörung und eine Rechtsvertretung verankert wurden. Damit soll gewährleistet werden, dass Eltern und Kinder ihre persönliche Sichtweise während des Verfahrens einbringen und sich aktiv am Entscheidungsprozess beteiligen können.

Fehlendes Verständnis des Verfahrens kommt vor und ist problematisch

Im Projekt «Wie erleben Kinder und Eltern den Kindesschutz?» nehmen Müller und Schoch zusammen mit ihren Forschungskolleg*innen neben einer historischen und juristischen Analyse auch eine empirische Untersuchung vor. Dazu haben sie Anhörungen von Familien bei verschiedenen KESB beobachtet und Interviews mit Eltern und Jugendlichen geführt und analysiert. Sie wollen herausfinden, wie die Eltern und ihre Kinder das Handeln der KESB wahrnehmen und darauf reagieren.

Aus den Beobachtungen geht hervor, dass die KESB-Mitglieder in den Anhörungen grundsätzlich sehr bemüht sind, alle wichtigen Informationen zum Kindesschutzverfahren und zu geltenden Rechten und Pflichten zu vermitteln und verständlich zu erklären. Trotzdem wurde in gewissen Anhörungen beobachtet, dass es im Verlauf der Gespräche auch zu Missverständnissen oder Ungewissheiten kommen kann. Zum Teil werden diese von den KESB-Mitgliedern erkannt und können geklärt werden, zum Teil bleiben sie aber auch unbemerkt. «Fehlen den Eltern und Kindern gewisse Informationen zu ihren Rechten und Pflichten oder das Verständnis über die Aufgaben der KESB, können sie sich nicht ausreichend ins Verfahren einbringen», sagt Schoch. Das sei problematisch. Wenn die Eltern und Kinder zum Beispiel nicht wissen, in welcher Phase des Kindesschutzverfahrens sie sich befinden, erkennen sie auch nicht, wann ein wichtiger Zeitpunkt wäre, an dem sie das Handeln der KESB beeinflussen können.

Eine offene Kommunikation fördern

Weiter haben die Forschenden festgestellt, dass für eine gelingende Beteiligung der Eltern und ihrer Kinder am Verfahren auch eine anerkennende Haltung der KESB-Mitglieder wichtig ist. Wenn sich die Familienmitglieder mit ihren Schwierigkeiten wahrgenommen, verstanden und respektvoll behandelt fühlen, haben sie mehr Mut, sich zu äussern und ihre Wünsche und Bedenken einzubringen. Durch die daraus entstehende offenere Kommunikation können die Argumente von möglichst allen Beteiligten miteinbezogen, Lösungen besser gefunden und gleichzeitig der Schutz der Kinder gewährleistet werden. «Rückblickend haben die meisten Familien aus den untersuchten Fällen gesagt, dass sie das Handeln der KESB respektive die angeordneten Massnahmen als unterstützend wahrgenommen haben, selbst wenn sie zum Teil in einigen Punkten anderer Meinung gewesen waren», sagt Schoch.

In den Interviews haben die Forschenden Eltern und Kinder dazu befragt, wie sie ihre Beteiligungsmöglichkeiten während des Kindesschutzverfahrens erlebt haben. Die laufenden Analysearbeiten der Interviews scheinen die Erkenntnisse aus der teilnehmenden Beobachtung zu stützen: Von den Eltern und ihren Kindern wird die KESB als unterstützend erlebt, wenn sie die Möglichkeit bietet, dass Eltern und Jugendliche ihre eigene Meinung und Einschätzung einbringen können und darauf aufbauend eine gemeinsame Lösungsfindung erarbeitet wird. Es gibt aber auch erste Hinweise darauf, dass Kindesschutzverfahren häufig noch stark auf die Zusammenarbeit mit den Eltern fokussieren und die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen zum Teil noch wenig Gewicht erhalten.

Interesse und Wohlergehen des Kindes ins Zentrum stellen

Es hat sich auch gezeigt, dass es vor allem für Kinder entscheidend ist, wie ihre Anhörung gestaltet wird, damit sie ihre Ansichten und Interessen einbringen können. «In der Regel sprechen Kinder eher mit einer Person über sich selbst, zu der sie bereits eine Beziehung haben und der sie vertrauen. Diese Voraussetzung zu schaffen ist bei einer einmaligen Anhörung durch ein KESB-Mitglied sehr herausfordernd», sagt Müller. Es gebe bislang noch wenig Wissen dazu, wie ein Kindesschutzverfahren aus der Sicht eines Kindes gestaltet sein muss, damit es sich wohlfühlt und sich entsprechend mitteilen kann. Bei den untersuchten Fällen wurden grosse Unterschiede in der Gestaltung der Anhörungen von Kindern und Jugendlichen festgestellt. Grundsätzlich könne der Einbezug einer Person, die spezifisch die Interessen des Kindes vertritt, ein möglicher Ansatz zur Stärkung der Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen sein, sagt Schoch.

Eines der Ziele dieses Forschungsprojekts ist es, Leitlinien für Kindes- und Erwachsenenbehörden zu formulieren, die die Behörden darin unterstützen, Eltern und vor allem auch die Kinder und Jugendlichen stärker an Kindesschutzverfahren zu beteiligen. «In einem solchen Verfahren müssen immer das Interesse und das Wohlergehen des Kindes im Zentrum stehen. Dies kann nur erreicht werden, wenn wir mehr darüber wissen, welche Rahmenbedingungen und Möglichkeiten ein Kind benötigt, damit es am Ende des Prozesses sagen kann: ‹Ja, ich konnte mich einbringen›», sagt Müller.

Die qualitativen Ergebnisse zum subjektiven Erleben der Eltern, Kinder und Jugendlichen werden in einem nächsten Projektschritt mit einer quantitativen Befragung (Fragebogen) breiter untersucht, abgeglichen, ergänzt und allenfalls auch relativiert.

Das Forschungsprojekt «Wie erleben Kinder und Eltern den Kindesschutz?» ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 76 «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft». Es wird als Kooperation zwischen der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und der Universität Genf durchgeführt und dauert von August 2018 bis August 2022.

Weiterführende Informationen

  • Projekte, Forschung und Weiterbildungsangebote zum thematischen Schwerpunkt «Kindesschutz» des Instituts Kinder- und Jugendhilfe von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW: kindeswohlabklaerung.ch
  • Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz: qualitaet-kindesschutz.ch
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