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Menschlichkeit vor Bürokratie

«Buurtzorg», ein Modell aus Holland, versteht Pflege ganzheitlich und setzt auf Teams, die sich selbst organisieren. Es hält die Administration klein und verrechnet einheitliche Stundentarife. Wäre dies auch für die Spitex-Organisationen in der Schweiz anwendbar? Ein Forschungsteam der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW geht dieser Frage nach.

Eine Pflegefachfrau hilft einem älteren Herrn bei der Bedienung eines Tablets. (© Getty Images/Halfpoint)

In Holland hat vor etwa zehn Jahren ein Projekt seinen Anfang genommen. Jos de Blok gründete mit einigen Pflegefachkräften eine private Spitex-Organisation. Die Beteiligten wollten eine Form der Pflege erfinden, in der die persönliche Berufung für die Pflegefachpersonen wieder einen zentralen Stellenwert innehat.

Eine Pflegefachkraft für alle Tätigkeiten

Die Klientinnen und Klienten sollten ihre Unabhängigkeit möglichst lange erhalten oder wieder zurückerlangen können. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Klientel stabile und professionelle Bezugspersonen hat. Es findet also keine Aufteilung der Aufgaben statt, wie das bei der herkömmlichen Spitex-Arbeit üblich ist. Eine Pflegeperson kann auch mal Karten mit den Klienten spielen oder mit ihnen ein Fotobuch ansehen. So baut sich eine belastbare Beziehung auf, in welcher wesentliche Dinge zur Sprache kommen können.

Informelles Netzwerk

Neben der pflegerischen Tätigkeit baute Buurtzorg – das holländische Wort für Nachbarschaftshilfe – auch ein informelles Netzwerk für seine Klientel auf. Dieses besteht aus Familienmitgliedern und Nachbarn und vermittelt den Klienten und Klientinnen Sicherheit, sorgt für regelmässige soziale Kontakte und unterstützt sie beim Erreichen ihrer persönlichen Ziele. Parallel zu diesem informellen Netzwerk sorgt Buurtzorg auch für ein stabiles formales Netz: Dieses besteht aus Hausärztin oder Hausarzt, Apotheke, Spital sowie Spezialistinnen und Spezialisten (zum Beispiel Physiotherapie). Neben den medizinischen und pflegerischen Bedürfnissen wird also auch den persönlichen und sozialen Bedürfnissen grosse Aufmerksamkeit geschenkt, indem die informellen Unterstützungsnetzwerke aktiv in die Pflege einbezogen werden.

Managementaufgaben in den Teams

Die über 10'000 Pflegefachkräfte bei Buurtzorg planen und erledigen die anfallenden Arbeiten selbstständig. Es gibt keine hierarchische Aufgliederung der Teams. Innerhalb eines Teams (maximal zwölf Personen) wird darauf geachtet, dass die vorhandenen Talente bestmöglich genutzt werden.
Das Modell Buurtzorg kommt ohne Personalabteilung und Vorgesetztenfunktion aus. Managementaufgaben werden von den Teams wahrgenommen, Verantwortung und Kompetenz werden in einem hohen Mass an die einzelnen Teams übertragen.

Finanziell attraktiv

Eine Studie des Beratungsunternehmens Ernst & Young aus dem Jahr 2009 zeigt, dass durchschnittlich 40 Prozent weniger Arbeitsstunden pro Klientin oder Klient nötig sind als bei vergleichbaren Organisationen. Zudem gibt es 30 Prozent weniger Notfälle und die Pflegedauer der Klientinnen und Klienten ist um die Hälfte kürzer. Das Modell Buurtzorg wirkt sich auch auf das Personal positiv aus: Krankheitsabwesenheiten und Fluktuationen sind im Vergleich zu anderen Organisationen im Gesundheitsbereich markant tiefer.

Ein Modell für die Schweizer Spitex?

Das Modell findet Aufmerksamkeit in verschiedensten Ländern, so auch in der Schweiz. Deshalb hat ein Forschungsteam der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und der Hochschule für Wirtschaft FHNW im Auftrag der Spitex-Organisationen Bern, Region Olten und Zürich Limmat untersucht, ob und wie das niederländische Versorgungsmodell Buurtzorg auch in der Schweiz Einzug halten könnte.

Interview: «Es braucht ein umfassendes Umdenken»

Enrico CavedonEnrico Cavedon*, lässt sich das Buurtzorg-Modell 1:1 in der Schweiz umsetzen?

Nein, davon raten wir ab.

Wieso?

Es gibt zwei wesentliche Unterschiede zwischen den Niederlanden und der Schweiz: Erstens sind in der niederländischen Pflegeversicherung erheblich mehr Pflegeleistungen obligatorisch versichert als in der Schweiz. Zudem ist das niederländische Tarifsystem sehr einfach: Die Anbieter vereinbaren mit allen Krankenkassen einen einheitlichen Stundentarif, zu welchem dann abgerechnet wird. Und die Kassen sind nicht gezwungen, mit allen Anbietern Verträge abzuschliessen und umgekehrt. Eine Versorgungspflicht wie in der Schweiz besteht somit nicht.

Zweitens bestehen grosse Unterschiede in den jeweiligen Ausbildungssystemen der beiden Länder. Das Hauptmerkmal von Buurtzorg ist eine grössere Verantwortung und Kontrolle der Pflegekräfte über die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen. So werden die Hilfeplanung und die Koordination der Pflegeversorgung gemeinsam im Team entwickelt und besprochen. Die Teams koordinieren die Versorgung für ein bestimmtes Einzugsgebiet. Die Zusammensetzung der Teams nach Qualifikationen und Berufserfahrung variiert ja nach Anforderungen in der «betreuten» Region. Das wichtigste Element bei diesem Ansatz ist das Vertrauen. Vertrauen nämlich, dass die Teams mit allen notwendigen Informationen ausgerüstet sind, um die Pflege autonom, in hoher Qualität, mit klaren Wirkungszielen und bedarfsorientiert zu erbringen. In den Niederlanden wird deshalb vor allem Personal mit Abschlüssen auf Tertiärstufe beschäftigt, in der Schweiz sind die Ausbildungen und beruflichen Laufbahnen der Mitarbeitenden sehr viel heterogener.

Aus diesen Gründen kommen wir zum Schluss, dass die Buurtzorg-Idee sorgfältig an die rechtlichen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen anzupassen ist. Besonders in der Schweiz mit ihren föderalistischen Strukturen ist dies eine grosse Herausforderung.

Die zentrale Herausforderung für eine Einführung des Buurtzorg-Modells in der Schweiz ist also die Entwicklung einer Vertrauenskultur?

Ja, genau. Das Buurtzorg-Modell basiert auf einem doppelten Vertrauenskonzept: Intern mussten sich viele Pflegende erst wieder daran gewöhnen, dass man ihnen vertraut und sie eine Vielzahl der relevanten Fragestellungen selbstständig angehen und kompetent lösen können. Gleichzeitig wird Buurtzorg auch von aussen grosses Vertrauen entgegengebracht: beispielsweise von den Klientinnen und Klienten, den Krankenkassen, den Fachgremien, der Politik und der Gesellschaft. Diese Kultur des Vertrauens kann nicht verordnet werden. Man muss sie leben, entwickeln, pflegen und immer wieder erneuern. Darüber hinaus gibt es weitere Aufgaben zu lösen, etwa im Zusammenspiel mit Krankenkassen, Gemeinden und Kantonen.

Was ist denn das Besondere an dieser Vertrauenskultur?

Sie ist gekennzeichnet durch Transparenz und Coaching. Grösstmögliche Transparenz wird durch das eigene EDV-System von Buurtzorg erreicht. Dort werden wenige, aber relevante Daten erfasst, welche für alle Teams einsehbar sind. Das Coaching-Konzept spielt im Buurtzorg-Modell als Führungsinstrument eine entscheidende Rolle. Coachs bieten den Teams Support an, sie haben aber keine hierarchische Position und keine formelle Position betreffend Organisationspolitik und Entscheidungsfindung. Sie bieten Support und Begleitung in der Teamentwicklung und steigern wichtige Fähigkeiten der Teams: unabhängig arbeiten, Problemlösung und Selbststeuerung.

Welche Voraussetzungen müssen Ihrer Ansicht nach erfüllt sein, damit Buurtzorg in der Schweiz gelingen kann?

Es braucht grösstmögliche Autonomie der einzelnen Teams mit wechselnden, temporären und funktionalen Hierarchien. Das bedeutet ein anderes Verständnis von Führung und Management. Dazu gehört auf der Ebene der Teams das Prinzip der Selbstorganisation: eigenständige Einsatzplanung, Gestaltung der Touren, Vertretungsregelung, Abrechnung vorbereiten, Dokumentation, Datenbankpflege, Organisieren und Arbeiten im Team. Zudem muss eine konsequente Reduktion von Komplexität im Pflegealltag angestrebt werden: wenig Kontakte für Patientinnen und Patienten, gemeinsame Verwaltung des Budgets, die Dokumentation von Wirkungen und nicht von Leistungen.

Weiter sind die Anforderungen an Pflegefachkräfte in den Buurtzorg-Teams hoch. Alle führen die gleichen Tätigkeiten aus, die für ihre Klientinnen und Klienten erforderlich sind. Neben der medizinischen Pflege gehören auch Aufgaben im sozialen Bereich dazu. Eine entsprechende Teamzusammensetzung in Bezug auf Fähigkeiten, Berufs- und Lebenserfahrung sowie die Durchmischung unterschiedlicher Bildungsabschlüsse muss gewährleistet sein.

Es braucht eine integrierte und trotzdem einfache IT-Plattform, wie sie von Buurtzorg entwickelt und eingesetzt wird. Und ganz wichtig ist die Beziehung der Spitex zu anderen Stakeholdern wie Gemeinden, Spitälern, Ärztinnen oder Ärzten, Krankenkassen. Heute basiert diese häufig auf einer Durchmischung von Vertrauens- und Misstrauenskultur.

Lohnt sich ein Veränderungsprozess?

Wenn wir die Entwicklung in den Niederlanden betrachten, dann kommen wir zum Schluss: Es lohnt sich. Aber wie bei jeder Organisationsentwicklung erfordert auch dieser Prozess Mut und Ausdauer, um gegen Widerstände anzukämpfen.

* Enrico Cavedon ist Mitglied des Forschungsteams im Projekt «Übertragung des Buurtzorg-Modells auf schweizerische Verhältnisse».


Nachgefragt: Spitex Region Olten und Zürich Limmat glauben an Buurtzorg

Die Spitex Zürich Limmat befindet sich in der Phase der Umsetzung zu den selbstorganisierten Teams. Gründe, warum sich die Spitex Zürich Limmat dafür entschieden hat, gibt es mehrere: «Wir möchten unserer Kundschaft mehr Kontinuität bieten, dies ist seit Jahren ein Kritikpunkt in unseren Kundenbefragungen», so Arda Teunissen, zuständig für die Weiterentwicklung der fachlichen Qualität und der Qualitätssicherung. «Kleinere Teams kennen ihre Kundschaft und die Mitarbeitenden, dadurch ist die Kundenbeziehung klarer und einfacher zu gestalten.» Weiter erhalten die Mitarbeitenden mehr Entscheidungskompetenzen in der Organisation ihres Arbeitsalltags. «Auch wollen wir unseren Betrieb gesund halten. Das Modell ist aus unserer Sicht keine Sparübung. Doch wir möchten die Mittel da einsetzen, wo sie unserer Klientel und unseren Mitarbeitenden etwas bringen», so Teunissen. Erste Erfahrungen im Pilotzentrum Schwamendingen zeigen, dass einige Mitarbeitende sehr zufrieden sind, andere überhaupt nicht.

«Ganz im Sinne der Selbstorganisation sind unsere Mitarbeitenden eng in das Projekt involviert und wir merken, dass bei ihnen viel Potenzial schlummert. Wir sind überzeugt, dieses zu aktivieren, um damit die Kunden- und Mitarbeitendenzufriedenheit gleichermassen zu fördern und unsere Ziele zu erreichen.»

Arda Teunissen, Mitglied der Geschäftsleitung Spitex Limmat AG

Auch Markus Gutknecht, Geschäftsführer der Spitex Region Olten, ist von der Umsetzung des Buurtzorg-Modells in der Schweiz überzeugt: «Es gibt keine wesentlichen kulturellen Unterschiede zwischen der Schweiz und den Niederlanden.» Die Spitex-Organisationen müssen eine historisch gewachsene, hierarchische Organisation neu ausrichten. «Das braucht Zeit, Geduld und ganz viel Vertrauen in die Vorzüge der Selbstorganisation.» Einiges werde man zudem anders umsetzen als in den Niederlanden, also an die Schweizer Verhältnisse anpassen, so wie es in der Studie der FHNW empfohlen wird. Das Buurtzorg-Modell besteht ausschliesslich aus Pflegefachpersonal mit Ausbildung auf Tertiärstufe. Die Spitex-Organisation Region Olten wird aber weiterhin mit gemischten Teams arbeiten, so Gutknecht. Die grossen Unterschiede zwischen der Schweiz und den Niederlanden lägen nicht in der Kultur, sondern in den Rahmenbedingungen der Gesundheitsbranche, ergänzt Gutknecht. «Die Niederlande kennen zum Beispiel keine Versorgungspflicht. Die Organisationen handeln ihre Tarife direkt mit den Krankenkassen aus.» Die Kassen vertrauten den entsprechenden Organisationen wegen der hohen Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit des Buurtzorg-Modells und liessen ihnen viele Freiheiten. «Was in der Schweiz diesbezüglich möglich ist, wird die Zukunft zeigen», so Gutknecht.

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