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Design Thinking: Mit Empathie zu wirtschaftlichem Erfolg. Ein neues Mindset hilft komplexe Probleme innovativ zu lösen

Susan Göldi | 1. July 2020

Interview mit Jacqueline Vitacco, Juni 2020

Zentrum Schreiben: Jacqueline, du unterrichtest Design Thinking und bietest dazu auch Beratungen an. Was genau ist Design Thinking?

Jacqueline: Design Thinking ist als Methode bekannt, um ein Problem zu lösen beziehungsweise innovative Lösungen für ein Problem zu finden. Design Tinking basiert auf einem bestimmten Mindset. Ursprünglich hat die Stanford d.school das Institut für Design an der Universität Stanford, den Design Thinking-Prozess beschrieben (Abbildung 1).

Abbildung 1: Das d.school Institut der Stanford Universität stellt den Design Thinking Process anschaulich mit fünf Phasen dar.
Abbildung 1: Das d.school Institut der Stanford Universität stellt den Design Thinking Process anschaulich mit fünf Phasen dar.

Die erste Phase ist auch die Phase, die das Design Thinking wesentlich prägt. Die Phase Empathize unterscheidet das Design Thinking von anderen Innovations-, Entwicklungs- und Problemlösungsprozessen. Empathize bedeutet, dass menschliche Bedürfnisse, Gedanken oder Gefühle aufgenommen werden. Nur eine empathische – mitfühlende – Person kann Bedürfnisse und Gefühle z.B. im Gespräch oder beim Beobachten von Menschen erfassen und verstehen.

Wer empathisch ist, bewertet nicht, sondern anerkennt Bedürfnisse und Gefühle und fragt sich: Wie kann ich zur Befriedigung von Bedürfnissen, zur Linderung von Not oder zur Steigerung von Freude eines anderen Menschen beitragen? Empathize ist nicht nur Startpunkt, sondern der eigentliche Kern im Design Thinking-Prozess und zentral für das eingangs erwähnte Mindset.

Zentrum Schreiben: Wird denn nicht schon lange mit klassischer Markforschung genau das gemacht: Bedürfnisse und Gefühle im Markt erhoben und dann für Innovationen ausgewertet?

Jacqueline: In anderen Problemlösungs- oder Innovationsprozessen basiert eine Innovation oft auf Marktforschung oder auf den Absichten einer Erfinderin oder eines Erfinders.  Das Erzeugnis solcher Prozesse ist aber nicht selten ein Produkt, das niemand braucht, oder Content, den niemand liest. Dafür gibt es Beispiele genug. Oft werden die Produkte nicht getestet, bevor sie auf den Markt kommen, wie im Fall der iPhone-Halterung (Abbildung 2). Sie versucht das Problem zu lösen, ohne «Unfälle» gleichzeitig Nachrichten schreiben und Kaffee trinken zu können. Wäre hier der Use Case «es klingelt» durchgespielt worden, hätte sich gezeigt: funktioniert nicht. Manche Produkte entsprechen in der Realität gar keinem Bedürfnis wie etwa im Fall von Google+, das nach Jahren und Millionen von Dollar an Investition vom Netz genommen wurde. Das Geschäftsziel, Facebook oder LinkedIn zu konkurrenzieren, stand im Vordergrund, und nicht der Nutzen für die User/innen. Für sogenannte Product fails gibt es sogar Hitlisten.

Abbildung 2: Beispiel für einen Product Fail, die Kaffebecher-Mobiltelefon-Halterung (Bildquelle)
Abbildung 2: Beispiel für einen Product Fail, die Kaffebecher-Mobiltelefon-Halterung (Bildquelle)

Zentrum Schreiben: Manchmal wird behauptet, dass über 90% aller Innovationen scheitern.

Jacqueline: Es gibt unterschiedliche Zahlen dazu und am Ende ist das schwierig zu messen. Manchmal setzen sich Produkte nur langsam oder zeitverzögert durch oder bringen statt wirtschaftlichem Erfolg andere Vorteile. Cooper (2020) sagt dazu:

“About 40% of new products are estimated to fail at launch, even after all the development and testing work; out of every 7 to 10 new-product concepts, only one is a commercial success; and only 13% of firms report that their total new product efforts achieve their annual profit objectives”

Bei den von Cooper identifizierten Erfolgsfaktoren für einen Markterfolg kommen übrigens alle Merkmale des Design Thinking vor: Kundenorientierung, deutliche Definitionen, Iterationen in der Entwicklung auf Grund häufiger Tests und viel Feedback aus der Zielgruppe.

Zentrum Schreiben: Kann man sich also teure Marktforschung, Umfragen und Fokusgruppen bei der Entwicklung von Innovationen sparen und einfach einen empathischen Blick auf die Mitmenschen werfen?

Jaqueline: Im Design Thinking gilt schon das tiefe Verständnis der Bedürfnisse und Gefühle eines Menschen als ausreichend, um die nächsten Phasen des Prozesses (Abbildung 1) in Angriff zu nehmen. Bei Define geht es darum, das Problem zu formulieren oder im Fall von Content die Nutzersicht zu erfassen, und davon ausgehend Lösungsideen zu entwickeln: Ideate heisst, viele Lösungsoptionen zu kreieren –und diese in der Prototype-Phase zu realisieren, um sie in der Test-Phase zu testen. Diese Phasen sind eng verknüpft und als eine Iteration zu denken. Iterativ ist der Prozess vor allem deshalb, da auf Grund von neuen Einsichten in der Testphase früher gefasst Entscheidungen überdacht und Veränderungen vorgenommen werden (Abbildung 3). So kann sich z.B. beim Testen eines Prototyps das Problem nochmals deutlicher stellen und neue Ideen können auftauchen.

Zentrum Schreiben: Das tönt nach grossem Aufwand und wahrscheinlich nicht selten einer endlosen Suche nach der besten Lösung.

Jacqueline: Das tönt nicht nur so, das ist so. Der Aufwand ist gross: Es braucht Zeit, es braucht Toleranz für beständige Veränderung, für Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, für nicht-lineare Herangehensweisen, es braucht Mut, Energie, Offenheit für Neues und die Einsicht, dass es keine beste Lösung, sondern immer nur eine nächstbeste Lösung gibt. In der Psychologie spricht man von Ambiguitäts-Toleranz. Sie ist leider bei vielen Leuten nicht sehr ausgeprägt und widerspricht dem Wunsch nach Sicherheit und Eindeutigkeit.

Sind wir aber ehrlich, dann sind Sicherheit und Eindeutigkeit Illusionen:

  • nichts ist sicher (ausser der Tod und die Steuern – wie der Volksmund sagt 🙂 
  • eindeutig ist oft einfältig, denn das einzige, was wir eindeutig wissen, ist, dass wir unmöglich alles wissen können (Volksmund: Ich weiss, dass ich nichts weiss ;-))

Wie gesagt ist Design Thinking mehr als eine Methode, es ist ein Mindset, also eine Haltung oder Einstellung, es entspringt einem nicht-idealisierten Weltbild und einem humanen Menschenbild. Im Design Thinking vertrauen Entwicklerinnen und Entwickler auf Empathie und nicht auf die Illusion einer simplen Welt, in der es unkomplizierte Probleme und einzig richtige Lösungen gibt.

Design Thinking
Abbildung 3: Design Thinking ist ein iterativer Prozess, er dreht sich um einen «Polarstern» (das Ziel), bleibt aber lösungsoffen. Entsprechend ist Design Thinking nicht abgeschlossen, sondern ermöglicht kontinuierliche Verbesserung und Anpassung an sich verändernde Bedingungen.

Zentrum Schreiben: Lassen sich alle Probleme mit Design Thinking bearbeiten bzw. lohnt sich der Aufwand in allen Fällen?

Jacqueline: Zu vielen Problemen gibt es bereits gute oder naheliegende Lösungen. In solchen Fällen macht es meist keinen Sinn, in Alternativen zu investieren. Sehr oft lohnt sich eine klassische Recherche: Wie lösen andere das Problem? In solchen Fällen lohnt es sich auch mit Expertinnen und Experten zusammenzuarbeiten. Das ist unter Umständen sogar billiger, schneller und einfacher, als mit Design Thinking bildlich gesprochen den Weg vom Holz-Rad zum Gummireifen selbst zurückzulegen. Zum Beispiel Krisenkommunikation muss nicht jedes Unternehmen durch Design Thinking neu erfinden, denn Expertinnen und Experten wissen, wie das gehen kann.

Ganz anders sieht die Sache aus, wenn vieles unbekannt, unklar oder in rascher Veränderung ist. In der digitalen Transformation zum Beispiel versuchen sich Entwickler/innen an einem «Polarstern» zu orientieren (Abbildung 3), eine Art Zielsetzung, die Entscheidungen leitet und Handeln ermöglicht. Wir kennen das aus Trial & Error-Verfahren in Wissenschaft und Praxis. Iterative Prozesse in der Entwicklung sind nichts Neues und passen sehr gut zu neuen Managementmethoden wie Agiles Management, für das schnelle Anpassungsfähigkeit zentral ist, oder Lean Management, für das beständige Kundenorientierung zentral ist.

Zentrum Schreiben: Wie verbreitet ist denn Design Thinking heute? Wer macht das und mit welchem Erfolg?

Jacqueline: Ich vermute, dass bald alle erfolgreichen grossen Unternehmen Design Thinking auf die eine oder andere Art integriert haben. Da sind zum Beispiel grosse Technologie-Unternehmen wie Google oder Apple, die das Mindset – von Design Thinking tief verankert haben, oder die digitalen Zweige der grossen Beratungsfirmen wie PwC oder Boston Consulting Group. Bei allen bilden die Grundideen von Design Thinking das vorherrschende Corporate Mindset. Interessant dazu zum Beispiel Aussagen des «Chief Innovation Evangelist at Google», Frederik Pferdt, oder des «Design Sprint Facilitator» aus dem PwC’s Experience Center Switzerland, Adrian Nussbaum.

Mittlere und kleinere Unternehmen dagegen sind je nach Branche und Region in geringerer Zahl mit Design Thinking unterwegs. Teils sind Unternehmen noch nicht reif, sie hören nicht auf Feedback oder wollen die Bedürfnisse und Gefühle der Kundinnen und Kunden nicht kennen und verstehen. Stark hierarchische Unternehmen können Iterationen verhindern, wenn ein Boss nicht akzeptiert, dass frühere Entscheidungen in Frage gestellt werden. Das ist besonders für die Mitarbeitenden frustrierend, die eigentlich reif wären für Design Thinking und bereits das entsprechende Mindset mitbringen. Andere Unternehmen haben es bereits in ihrer DNA, nennen es aber vielleicht anders. Diese zeichnen sich typischerweise durch grosse Innovationskraft aus.

Zentrum Schreiben: Wie unterstützt du Mitarbeitende und Unternehmen dabei das neue Mind set des Design Thinking zu bilden?

Jacqueline: Die Kurse zum Design Thinking führen Mitarbeitende aus der Kommunikation, aus dem HR oder dem Marketing, der Geschäftsleitung – alle, die für und mit Menschen entwickeln – in das Design Thinking ein. Oft finden Schulungen in-house für ganze Teams oder Abteilungen statt, damit man sich gemeinsam mit dem Mindset vertraut machen und es zusammen der Team- oder Abteilungskultur anpassen kann. Ich zeige an Beispielen die Relevanz und Effektivität von Design Thinking. Ich erkläre konkrete Methoden, welche im Design Thinking zum Einsatz kommen. An Beispielen wird das Design Thinking geübt und ein iterativer Prozess durchgespielt. Dabei reflektieren die Teilnehmenden in den Kursen sachlich über Erfolgsfaktoren von Design Thinking und über spezifische Rahmenbedingungen ihrer Praxis. Sie tauschen sich aber auch über eigene Befindlichkeiten aus.

Design Thinking ist kein Spaziergang, sondern harte Arbeit und nur reflektierte Teams sind erfolgreich. Denkkonzepte wie «Fehler» oder «Schuld» zum Beispiel haben keinen Platz: eine Lösung funktioniert oder sie funktioniert nicht. Wenn sie nicht funktioniert, wird sie so lange revidiert und entwickelt, bis sich das Team dem Polarstern (Abbildung 3) ausreichend angenähert hat. Dann wird die Lösung implementiert und bringt entweder den erhofften Erfolg im Markt oder es geht zurück in den Entwicklungsprozess. Am Ende geht es auch im Design Thinking um wirtschaftlichen Erfolg. Nur so kann eine Methode, die aus dem Produktdesign stammt, eine breitere Akzeptanz finden. Am Anfang steht aber immer die Empathie, denn ohne sie stellt sich ein wirtschaftlicher Erfolg nicht oder nur zufällig ein.

Zentrum Schreiben: Danke Jacqueline

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