Skip to main content

20.6.2022 | Pädagogische Hochschule

Gemeinsam an der Integration arbeiten

Ein Instrument der PH FHNW hilft, geflüchteten Kindern den Einstieg in die Schule zu erleichtern. Eine Lehrerin und eine Heilpädagogin geben Einblicke.

AG2A9936_auswahl_1980x1020.jpg

Elisabeth Merz nutzte ESKON mit Sofja. Foto: Christian Irgl

Geflüchtete Kinder tragen einen schweren Rucksack. Die Erfahrungen, die sie gemacht haben, lassen sich kaum nachvollziehen. Immerhin lässt sich ihr Einstieg in die neue Umgebung und in die Schule erleichtern, wenn die Verantwortlichen wissen, welche Fähigkeiten die Kinder bereits mitbringen. Dazu hat die Pädagogische Hochschule FHNW ein Instrument entwickelt: ESKON. Das steht für «Erfassung schulischer Kompetenzen Neuzugezogener» – eine Aufgabensammlung in 28 Sprachen, die vor allem zum Kennenlernen dient.

Zusammen einen guten Einstieg finden

Wie eine solche erste Begegnung mit Hilfe von ESKON gestaltet werden kann, erzählt Elisabeth Merz, Primarlehrerin und Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) an der Schule Othmarsingen. «Es geht vor allem darum, Vertrauen zu den Eltern und Kindern aufzubauen.» Merz begleitet seit Anfang April Sofija*, ein 7-jähriges Mädchen, das aus der Ukraine geflüchtet ist. «Wir haben uns mit der Mutter und mit Sofija zusammengesetzt. Die Tante war auch noch dabei, weil sie Deutsch kann und für uns übersetzte. Um als Lehrperson auf Sofija richtig eingehen zu können, muss ich abklären wo ihre Kompetenzen in ihrer Erstsprache sind», stellt Merz fest. «Wir haben uns danach zu zweit, ohne die Mutter und die Übersetzerin, spielerisch an den ESKON-Test gemacht. Neben den Erstsprachkompetenzen wollte ich auch erfahren, wie die Schülerin mit Stift und Schere zurechtkam.» Für die Altersstufe des Mädchens sieht der Test etwa vor, Bilder und Wörter zu zuordnen und zu beschriften, eine Bildergeschichte nachzuerzählen, einen Text laut vorzulesen, Zahlen zu schreiben und mathematische Grundaufgaben zu lösen. Es stellte sich heraus, dass Sofija bereits sehr fliessend lesen konnte. Nach dem Test hat sich Elisabeth Merz noch Zeit genommen, damit die Schülerin mit allen Sinnen beim Gestalten, Malen und Spielen weitere positive Erfahrungen an ihrem neuen Schulort gewinnen konnte. «Wir haben zusammen einen guten Einstieg gefunden», sagt Merz, die Sofija nun als DaZ-Lehrperson noch mehrmals die Woche sieht und mit ihr arbeitet.

Ein anderes Bild gewinnen

«Würde man sich bloss auf das stützen, was man von den Kindern im Schulunterricht sieht, würde man ihren Stand nicht richtig einschätzen», sagt Elisabeth Merz aus Erfahrung. Die Primarlehrerin erzählt, wie sie durch ESKON ein ganz anderes Bild von einem Schüler aus Eritrea erhielt. Er war sehr schüchtern und zurückhaltend, konnte sich kaum verständigen. «Als ich ihn die verschiedenen ESKON-Sets durcharbeiten liess, erkannte ich, dass er aber in seiner Erstsprache alle Aufgaben lösen konnte und sehr fortgeschritten war.» Im DaZ-Unterricht konnte er einen Vortrag zu einer eritreischen Fabel mit dem Material aus ESKON vorbereiten, den er der Klasse dann in seiner Sprache Tigrinya hielt. Dazu verteilte er den Text. «Die Klasse war beeindruckt vom Schriftbild und alle waren erstaunt, weil sie ihn noch nie fliessend lesen und sprechen gehört hatten. Für den Jungen war es ein schönes Erfolgserlebnis.»

Hinter ESKON stehen die Dozentin Ursula Ritzau und ihre Kolleginnen und Kollegen von der Pädagogischen Hochschule FHNW, die das Instrument 2016 entwickelten. Die Aufgaben in ESKON sind in jeder Sprache vereinheitlicht und somit ist es für die Lehrperson einfacher, damit zu arbeiten. Aktuell umfasst es 28 Sprachen, laufend kommen neue hinzu. Das muss mitunter schnell gehen. Als anfangs März bereits kantonale Vertreterinnen und Vertreter sowie Lehrpersonen bei Ritzau nach Aufgaben in Ukrainisch fragten, setzte die Dozentin das so schnell wie möglich um. «Innerhalb von zwei Wochen hatte eine Sprachexpertin aus Basel die Aufgaben übersetzt und die Lehrpersonen konnten damit arbeiten.»
In der Anfangsphase von ESKON wurde darauf geachtet, dass die kulturellen respektive erfahrungsweltlichen Unterschiede nicht zu Missverständnissen führen würden. In Somalia gibt es beispielsweise keine Züge und die Busse fahren nicht nach Fahrplan. «Folglich verzichteten wir auf Aufgaben, die von unserem ÖV-Verständnis ausgingen», erzählt Ritzau.
ESKON steht interessierten Lehrpersonen gratis zur Verfügung. Die PH bietet auch eine kurze Weiterbildung dazu an, die hilft, Sicherheit im Umgang mit dem Instrument zu gewinnen. Bei ESKON stehen didaktisch-pädagogische Aspekte im Vordergrund, nicht etwa die Bewertung: «Wir empfehlen, die Kinder stets altersgemäss einzustufen. ESKON dient zum Kennenlernen und zum Einschätzen, nicht zur Einteilung.»

Auf Augenhöhe

Bettina Faraj ist Heilpädagogin an der Schule Suhr. Sie betreut fünf Klassen und macht mit den neuankommenden Kindern den ESKON-Test. Faraj betont ebenfalls, wie wichtig diese erste Abklärung ist, «damit das Kind später nicht über- oder unterfordert wird, und die Lehrperson weiss, was es ihm zumuten kann.» Die Testsituation versucht Faraj so ungezwungen wie möglich zu gestalten, damit kein Druck entsteht. «Für viele Kinder ist es auch eine Gelegenheit zu zeigen, was sie können. Manche machen das sogar ganz gerne», erzählt die Heilpädagogin. Erfolgserlebnisse ermöglichen, auf Augenhöhe begegnen – das hilft, (Selbst-)Vertrauen zu schaffen. «Wenn ich den Kindern gegenüber etwa erkläre, dass ich die Schrift ihrer Sprache nicht lesen kann und ihnen zeige, dass sie etwas können, was ich nicht kann, wirkt das motivierend und baut Hürden ab.» Bei der Einstufung der Kinder gelte es, eine ganzheitliche Betrachtung unter Berücksichtigung ihrer Reife, des Schulalters und ihres Umfelds zum Tragen kommen zu lassen. Die Erkenntnisse aus ESKON böten dabei vor allem Anhaltspunkte für die individuelle Förderung. «Wir arbeiten mit unseren heterogenen Klassen ohnehin binnendifferenziert. Für das Kind ist es gut, einfach mal zu starten und Freunde zu finden. Das klappt unter Gleichaltrigen am besten.»

*Name geändert

- Michael Hunziker - 

ESKON

Das Instrument ESKON steht online kostenlos zur Verfügung.

www.eskon.ch

Kennenlernen in 28 Sprachen mit ESKON

Dr. Ursula Ritzau, Mitautorin von ESKON und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache kennen die Situation: Schülerinnen und Schüler mit wenigen oder keinen Deutschkenntnissen kommen an und sollen möglichst schnell in die Klasse integriert werden. Da die Lehrperson und die Schülerinnen und Schüler oft keine gemeinsame Sprache beherrschen, ist es für die Lehrperson schwierig, die mitgebrachten Erfahrungen und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler einzuschätzen. Wie gut können sie lesen, schreiben und rechnen? Welche Schulfächer und Aufgabentypen sind ihnen bekannt?

Das Instrument ESKON hilft weiter: Das Verfahren gibt der Lehrperson einen differenzierten Ein-blick in die schulischen Kompetenzen, Erfahrungen und Interessen der einzelnen Schülerinnen und Schüler, womit eine gezielte individuelle Förderung möglich wird.

ESKON besteht aus zwei Teilen: ESKON Sprache und ESKON Mathematik. Beide Teilinstrumente erfassen Kompetenzen aus dem Lehrplan 21 und sind nach den Schulstufen eingeteilt: Das Aufgabenset «0–2 Jahre Schulerfahrung» entspricht dem Zyklus 1 (Kindergarten bis 2. Klasse Primarstufe), die Aufgabensets «3–4 Jahre Schulerfahrung» sowie «5–6 Jahre Schulerfahrung» entsprechen dem Zyklus 2 (3. bis 6. Klasse Primarstufe) und das Aufgabenset «7–9 Jahre Schulerfahrung» entspricht dem Zyklus 3 (Sekundarstufe I).
Die Aufgabensets werden nach Anzahl Jahren Schulerfahrung und nicht nach Alter gewählt. Ein 10-jähriger Schüler, der die Schule zwei Jahre lang besucht hat, wird das Aufgabenset 0–2 lösen, genauso wie eine 7-jähriger Schülerin, die über zwei Jahre Schulerfahrung verfügt. Um das richtige Aufgabenset in der Erstsprache oder in der stärkeren Sprache der jeweiligen Schülerinnen und Schüler auszuwählen, führt die Lehrperson mit ihnen zunächst ein strukturiertes Gespräch, zusammen mit jemandem, der übersetzen kann. Das Gesprächsraster erlaubt einen ersten Überblick über die Schulerfahrungen. Danach können die Aufgabensets zu den schulsprachlichen sowie zu den mathematischen Kompetenzen durchgeführt werden.

• ESKON Sprache erfasst die schulsprachlichen Kompetenzen anhand von Aufgaben, die in mittlerweile 28 Sprachen (inkl. Deutsch) zur Verfügung stehen. Mit den Aufgaben wird ermittelt, auf welcher Stufe die Schülerinnen und Schüler über die im Lehrplan 21 beschriebenen Kompetenzen verfügen, auch wenn sie diese noch nicht auf Deutsch zeigen können.
• ESKON Mathematik ermittelt mit sprachfreien Aufgaben Kompetenzen vor allem in den Kernbereichen der Arithmetik und Geometrie und bietet somit Hinweise auf die fachliche An-schlussfähigkeit der mathematischen (Vor-)Kenntnisse an die Anforderungen des Mathematikunterrichts in der Schweiz.
Beide Teilinstrumente sind dynamisch aufgebaut, sodass nicht alle Aufgaben eines Aufgabensets zwangsläufig gelöst werden müssen, um die Beantwortungen auszuwerten. Ist ein Aufgabenset für die Schülerin oder den Schüler auf einem zu hohen oder tiefen Niveau, kann das Set während des Verfahrens gewechselt werden. Damit wird Über- oder Unterforderung vermieden und ein kompetenzorientierter Zugang gewährleistet.

Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass Lehr- und Fachpersonen vom Instrument ESKON sehr angetan sind und die Ergebnisse gezielt für den Unterricht nutzen können. Zusätzlich melden sie, dass sie durch ESKON bessere Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern, sowie ihren Begleitpersonen aufbauen können, weil die Familiensprachen explizit in das persönliche und fachliche Kennenlernen einbezogen werden. So profitieren Lehrpersonen, Schulen als auch Schülerinnen, Schüler und Eltern.

Diese Seite teilen: