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25.10.2019 | Pädagogische Hochschule

«Sinnprovinzen des Lebens zum Sprechen bringen»

Der renommierte Soziologe Hartmut Rosa war zu Gast an der PH FHNW. Im Interview spricht er über Resonanz als zentralen Bildungsaspekt.

Was verstehen Sie unter dem Begriff Resonanz?

Darunter verstehe ich eine bestimmte Art des in Beziehung-Seins, des in Beziehung-Tretens mit der Welt. Das kann mit anderen Menschen, der Natur oder den Dingen, mit denen wir arbeiten, sein. Wenn die Umwelt eine Qualität hat und mich anzusprechen und zu prägen vermag, stehe ich in einem Antwortverhältnis zu ihr. Das ist ein Urprinzip von Leben. Bereits als Embryos befinden wir uns in einer Antwortbeziehung, etwa mit dem Herzschlag der Mutter und spätestens mit der Geburt sind wir auf das Andere intentional und sinnlich ausgerichtet. Es geht mir beim Resonanzbegriff also um eine Welt-Beziehung oder um einen Zustand, in dem es uns gelingt, uns der Welt und uns gegenseitig wirklich anzunähern. Einen Zustand, in dem sich die Welt anverwandeln lässt und einem antwortet. Das Gegenteil dazu wäre die Entfremdung, in der wir die Welt kalt, unbelebt und stumm erfahren.

Ihre Resonanzsoziologie ist auch eine Gesellschafts-Kritik. Die moderne Welt antwortet uns nicht mehr. Warum?

Nun, zuerst ist sie eine Theorie, die Weltbeziehung systematisch zu erfassen versucht und sie ist nicht nur als Kritik angelegt. Aber richtig, meine Grundthese lautet, dass moderne Gesellschaften institutionell so verfasst sind, dass sie sich ständig steigern und wachsen müssen. Diese Steigerung kann nur durch ständige Innovation erreicht werden. Das hat sich zu einem blinden Steigerungswahn entwickelt, der uns überfordern und stressen kann. Es ist nun nicht so, dass wir etwa von Gier nach immer mehr Wohlstand getrieben werden, sondern eigentlich treibt uns die Angst, dass wir das, was wir haben, nicht halten können. Dabei gehen wir sehr instrumentell vor und versuchen uns immer mehr von der Welt verfügbar zu machen und unter Kontrolle zu bringen. Das Problem dabei ist, verkürzt ausgedrückt, dass wir uns selbst zu Objekten machen und die Umwelt verdinglichen. Wir und die Dinge sind also nicht mehr Selbstzweck, sondern Instrumente der Steigerungslogik. Das führt zu einem Klima gesellschaftlicher Kälte und Entfremdung.

Welchen Stellenwert hat die Bildung in Ihrer Resonanzsoziologie? Und wie passt da die Kompetenzorientierung hinein, die ja Bildung tendenziell als Mittel versteht?

Wird bei der Kompetenzorientierung der Aspekt der Verfügbarmachung von Inhalten einseitig betont, geht der eigentliche Sinn von Bildung verloren. Bei Bildung geht es doch um eine Weltbeziehungsbildung, welche die Sinnprovinzen des Lebens zum Sprechen bringt. Dass einem die Literatur etwas sagt, Biologie, die Physik und so weiter. Dass man sich begeistern lassen kann für ein Thema. Bildung zielt ja darauf ab, Resonanzbeziehungen zu schaffen. Ich bin nicht gegen Kompetenzorientierung. Aber sie soll kein Selbstzweck sein. Meine Resonanzidee lässt sich durchaus erweitern zu einem Resonanzpädagogik-Konzept.

Wie könnte denn eine solche Resonanzpädagogik aussehen, etwa in Bezug auf das Verhältnis zwischen Lehrperson und SchülerInnen?

Die Beziehungsqualität zwischen den beiden ist zentral. Es reicht nicht, wenn letztere bloss MediatorInnen sind. Schülerinnen und Schüler brauchen eine Stimme, die sie zu affizieren, zu begeistern vermag, ihnen etwas sagt, was sie angeht. Deshalb glaube ich, dass die Resonanzachsen unter allen Beteiligten offen sein müssen, ein wechselseitiges Sich-Erreichen, dann fühlt man sich auch selbstwirksam, was sich auch auf die Motivation auswirkt.

Und in Bezug auf das Fachliche?

Hier besteht die Resonanzfähigkeit darin, zu spüren, dass man das, was man betrachtet, zum Sprechen bringen kann. Ob man nun in ein Mikroskop oder durch ein Teleskop schaut oder ein Instrument spielt. Dass die Welt einem was zu sagen hat und man etwas daraus zu machen versteht. So entsteht Bildungserfolg. Die Voraussetzungen, dass Schule zu einem Resonanzraum werden kann, sind eigentlich vielversprechend: Lehrpersonen haben ja ihren Beruf gewählt, weil sie resonant sein, weil sie Kinder erreichen wollen und die Schülerinnen sind begeisterungsfähig und wollen etwas lernen und sich transformieren lassen. Aber das Problem in der Bildung ist, dass dieser Resonanzprozess nicht immer sofort und von selbst in Gang kommt. Teilweise widersetzt sich das zu Lernende ja massiv. Aber in dem vielleicht kurzen Moment, wo mich etwas anspricht, fängt Kompetenzentwicklung an. Wenn mich ein Klavier affiziert, will ich es spielen können. Jetzt muss die Affizierung oder die Anrufung genug stark sein, um über viele langweilige Stunden hinwegzutragen. Das geht aber nicht ohne Lehrperson, die die Erinnerung durch das, was sie selbst kann und auch durch ihre Beziehung zu mir, immer wieder wachruft.

Welche gesellschaftlich-institutionellen Bedingungen bräuchte diese Beziehung?

Wir haben diese Frage auch schon zusammen mit dem Didaktiker Wolfgang Enders in verschiedenen Publikationen diskutiert. Wie kann die Schule zu einem Resonanzraum werden? Es gibt in vielerlei Hinsicht Dimensionen, in denen man das konkret durchdenken kann. Der Zeitdruck in der Schule ist ein grosses Problem. Die Schule muss den Beteiligten die Flexibilität lassen, einem ‘Faden’ nachzugehen, der jetzt nicht auf dem Lehrplan steht, um eine Sache zum Sprechen zu bringen. Dann denke ich an den Konkurrenzdruck, der sich ja durchaus auch positiv in der Motivation auswirken kann, der aber nicht so gross werden darf, dass Schule zu einem Angstfeld wird, denn dann werden Resonanzen schwierig zu realisieren sein. Im Unterricht schlage ich vor, damit wir Raum und Zeit anverwandeln und die Schülerinnen und Schüler sich auf das Unterrichtsgeschehen hin öffnen können, so etwas wie ein Klassenlied oder generell Musik als rituelles Element einzusetzen. Rituale vermögen eine dispositionale Erwartung zu erzeugen, die für die Resonanz wichtig ist.

Wie hat sich das Thema Resonanz bei Ihnen entwickelt?

Neben der theoretisch intellektuellen Auseinandersetzung mit den Gegenbegriffen ‘Entfremdung’ und ‘Anerkennung’ stellte sich mir das Thema auch auf eine ganz konkrete, praktische Weise. Ursprünglich wollte ich ein Buch schreiben, das den Titel hätte haben können ‘Geworfen oder getragen’. Ich wollte wissen, was sind die Bedingungen dafür, dass ich mich in die Welt hineingeworfen oder dass ich mich getragen fühle. Ich habe mich dann jeden Abend selbst gefragt, bin ich gerade geworfen oder getragen? Wenn ich das Gefühl hatte, das Leben gelingt, ich fühle mich getragen, hatte ich fast im physischen Sinne vibrierende Resonanzdrähte für meine Umwelt, die Nachbarn, die Arbeit. War ich hingegen schlecht drauf, wollte ich von meiner Umwelt nichts wissen. Dieses Starrwerden von Resonanzachsen war eine direkt leibliche Erfahrung. Daraus habe ich dann den Resonanzbegriff entwickelt.

Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt.

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