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Kompetenzen und Fortschritt im Fokus

Die Schule Balsthal setzt auf ein neues Beurteilungskonzept. Bei der Entwicklung wurde sie von der PH FHNW unterstützt.

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Anna Walter bespricht auch die notenfreien, kompetenzrasterbasierten Beurteilungen jeweils zeitnah mit ihren Schülerinnen und Schülern. Foto: Theo Gamper

«Die Beurteilung der Kinder ist nun aus meiner Sicht transparenter, differenzierter und wertschätzender», sagt Anna Walter. Sie ist Lehrerin einer 6. Klasse an der Primarschule Balsthal (SO) und ist Feuer und Flamme für das neue Beurteilungskonzept, das die Schule in einem mehrjährigen Prozess erarbeitet hat und das seit dem letzten Sommer umgesetzt wird. «Das Konzept ist in Zusammenarbeit des ganzen Kollegiums entstanden. Es macht uns Lehrpersonen die Auflage, möglichst viele Arten von Lernbelegen zu berücksichtigen», so Anna Walter.

Nur rund ein Viertel der Beurteilungen macht Anna Walter noch mit klassischen Prüfungen und damit einhergehenden Noten. Daneben beurteilt sie Produkte oder mündliche Beiträge der Schülerinnen und Schüler anhand von Kriterienrastern, die auf das Erreichen der im Lehrplan 21 festgehaltenen Kompetenzen fokussieren. So sammelt sie über das gesamte Semester Lernbelege und Beobachtungen in einem Dossier. Zu Semesterende geht sie die Dossiers durch und setzt die Zeugnisnote. Das Beurteilen der einzelnen Schülerinnen und Schüler sei so zwar etwas aufwändiger, als wenn sie einfach eine Durchschnittsnote aus verschiedenen Prüfungen errechnen würde, sagt Anna Walter. «Aber ich kann so der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler besser gerecht werden und den Ist-Zustand zum Zeitpunkt des Zeugnisses besser abbilden.»

Differenzierte Rückmeldung mit Kriterienraster

Philipp Bucher, Dozent für Schul- und Unterrichtsentwicklung am Institut Weiterbildung und Beratung der PH FHNW, hat die Schule Balsthal im Prozess, der zum neuen Beurteilungskonzept führte, begleitet. «Zahlreiche Schulen machten sich mit der Einführung des Lehrplans 21 daran, das für sie richtige Instrument zu finden, um den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu unterstützen und adäquate Codierungen zu finden», sagt er. Die Prozessbegleiterinnen und -begleiter der PH FHNW raten den Schulen dabei nicht grundsätzlich dazu, weniger Noten zu machen. «Aber wir plädieren dafür, mehr Informationen zum Lernprozess und zum Lernstand zu sammeln, um so den Schülerinnen und Schülern wirksamere Rückmeldungen geben zu können.» Zur Veranschaulichung macht Philipp Bucher ein Beispiel: Ein Kriterienraster könne den Kindern beim Lesenlernen differenzierte Rückmeldungen geben zu ihren Kompetenzen in puncto Lesefluss, Betonung, Tempo und Aussprache und gleichzeitig Entwicklungen sichtbar machen. «Setzt man eine Note daneben, wird der Informationsgehalt dieser Kriterien reduziert, da sich sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Eltern nur auf die Note und nicht mehr auf den Entwicklungsstand fokussieren», so Bucher.

Gute Erfahrungen – auch bei Übertrittsgesprächen

Seit letztem Sommer setzt Balsthal auf das neue Beurteilungskonzept. «Im Jahr davor fand eine Erprobungsphase statt und die Schülerinnen und Schüler konnten das System kennenlernen», so Anna Walter. Auch die Eltern habe sie bereits dann an Elternabenden informiert und so ins Boot geholt. Walter zieht ein positives erstes Fazit. «Die Kinder gehen Aufgaben oft mit mehr Selbstvertrauen und mit weniger Nervosität an, wenn es sich nicht um eine herkömmliche Prüfungssituation handelt», hat sie festgestellt. «Das zeigt sich auch daran, dass sie weniger Flüchtigkeitsfehler begehen.» Dadurch, dass Anna Walter auch die notenfreien, kompetenzrasterbasierten Beurteilungen jeweils zeitnah mit den Schülerinnen und Schülern – einzeln oder im Plenum – bespricht, ist auch gewährleistet, dass die Kinder ihren aktuellen Stand stets kennen. «In Gesprächen mit den Eltern hat sich gezeigt, dass diese mit dem neuen Beurteilungskonzept besser über die Fortschritte ihrer Kinder Bescheid wissen als vorher», so Walter. Deshalb komme die neue Art des Beurteilens auch bei den Eltern gut an.

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Anna Walter sichtet ein Dossier mit Lernbelegen. Foto: Theo Gamper

Dies hat sich auch bei den Übertrittsgesprächen für die Sekundarstufe I gezeigt – einem besonders wichtigen Punkt in der schulischen Laufbahn aller Schülerinnen und Schüler (vgl. Fachbeitrag unten). «Ich hatte noch nie so wenige Diskussionen wie dieses Jahr», sagt Walter. Sie sei im Gespräch mit den Eltern jeweils ihr Beurteilungsdossier mit den Lernbelegen durchgegangen, habe den jetzigen Stand der Schülerinnen und Schüler kommentiert und so ihre Zeugnisnote erklärt. «Meist war das für alle nachvollziehbar.». Auch Philipp Bucher, der verschiedene Schulen begleitet, hört nur selten von Reklamationen von Eltern. «Meist schätzen sie die Transparenz und die eindeutigeren Rückmeldungen.» Tendenziell erhielten die Schülerinnen und Schüler in ihrer Klasse mit dem neuen Konzept etwas bessere Bewertungen, so Walter. «Aber dennoch gibt es Kinder, die gewisse Kompetenzen nicht erreichen – und so auch den Übertritt in das von ihnen angestrebte Niveau auf der Sekundarstufe I nicht schaffen.»

Längerer Entwicklungsprozess im Kollegium

In den Kollegien seien nicht alle Lehrpersonen gleichermassen euphorisch, wenn es daran gehe ein neues Beurteilungskonzept zu erarbeiten, weiss Philipp Bucher. «Da spielen eigene berufsbiografische Erfahrungen und Prägungen mit und es kann durchaus vorkommen, dass Lehrpersonen aus verschiedenen Gründen stark an der Beurteilung mit Noten hängen.» Wichtig sei, dass diese Überzeugungen im Entwicklungsprozess geäussert werden. «Ein solcher Prozess dauert über drei bis vier Jahre und beinhaltet verschiedene Workshops und Weiterbildungen», so Bucher. Auch für Anna Walter ist klar, dass es unterschiedliche Haltungen gibt. «Aber letztlich ist unser Konzept ein Produkt aus der Zusammenarbeit des Kollegiums. Alle stehen dahinter, dass es möglichst viele Arten von Lernbelegen geben soll.» Wie oft es aber in den Klassen noch Prüfungen mit Noten gibt, sei individuell. «Während es bei mir ein Viertel der Lernbelege sind, sind es bei anderen Lehrpersonen vielleicht rund 50 Prozent», so Walter. Dass es noch Prüfungen geben soll, steht für sie ebenfalls ausser Diskussion. «Die Schülerinnen und Schüler sollen auch lernen mit solchen Situationen umzugehen.»

- Marc Fischer - 


Weshalb der Übertritt in die Sekundarstufe I zu Notendruck in der Primarschule führt - und wie dem begegnet werden könnte

Dr. Sandra Hafner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin SNF-Projekt «Governance von Transitionen» der Professur Bildungssoziologie, Institut Sekundarstufe I & II, PH FHNW

Formative Beurteilungsinstrumente, wie sie das neue Beurteilungskonzept der Schule Balsthal einsetzt, geben Kindern und Eltern inhaltliches Feedback zum Lernstand. Dies ist pädagogisch in jedem Fall zu begrüssen. Im Diskurs rund um «Schule ohne Noten» muss aber mitbedacht werden, dass Primarschulkinder in vielen Kantonen nach der 6. Klasse in verschiedene Leistungszüge der Sekundarstufe I eingeteilt werden. Dies ist auch in der Nordwestschweiz der Fall, wo die Sekundarstufe I im getrennten Modell organisiert ist. Hier werden Schülerinnen und Schüler in separaten Leistungszügen unterrichtet, aufgeteilt in die Niveaus «Grundansprüche», «erweiterte Ansprüche» und «hohe Ansprüche». Um die Zuweisung in einen Leistungszug zu begründen, stützen sich Lehrpersonen auch auf summative Beurteilungen mit Noten – in manchen Kantonen sind die zu erreichenden Noten gar in Reglementen festgehalten. Ein Verzicht auf schulische Noten scheint in der aktuellen Bildungslandschaft nur möglich, wenn man auf diese Selektion am Übergang der Sekundarstufe I verzichten würde.

Zukunftsweisende Entscheidung

Die Selektion am Ende der Primarstufe verursacht bei Kindern, Eltern und Lehrpersonen vor allem «Stress», wie Schulleiterinnen und Schulleiter von Primarschulen in unserer Studie zur Steuerung und Ausgestaltung von Übergängen im Schweizer Bildungssystem berichten. Denn die Zuweisung in einen bestimmten Leistungszug bestimmt massgeblich über die weiteren Bildungschancen. So erhalten Jugendliche im tiefsten Leistungszug ein Label als schwache Schülerin oder schwacher Schüler, was zu Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche führen und die Identitätsbildung negativ beeinflussen kann. Im Weiteren sind das Gymnasium, die Fachmittelschule oder anspruchsvolle Berufslehren besonders aus dem tiefsten Leistungszug kaum mehr erreichbar – weil die Zugangsregelungen dies verunmöglichen und weil Jugendliche im tiefsten Leistungszug nicht jene Kompetenzen erwerben, die für die gewünschte Anschlusslösung erforderlich sind.

Lohnt sich die Selektion in Leistungszüge? Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen nicht dafür. Verschiedene Studien sowie auch PISA-Daten zeigen seit Jahren, dass es zwischen den Leistungszügen der Sekundarstufe I grosse Leistungsüberschneidungen gibt: Die stärksten Schülerinnen und Schüler des tiefsten Leistungszugs schneiden in einzelnen Fächern besser ab als die Schwächsten des höchsten Leistungszugs. Die Durchlässigkeit zwischen den Leistungszügen ist zudem gering, und Abstiege sind häufiger als Aufstiege. Die Zuweisung zu einem Leistungszug der Sekundarstufe I ist zudem bekanntermassen stark von der sozialen Herkunft eines Kindes, sprich Bildung und Beruf der Eltern, abhängig.

Durchlässigere Modelle erhöhen Chancengleichheit

Unter anderem aus diesen Gründen entscheiden sich immer mehr Kantone und Gemeinden ausserhalb der Nordwestschweiz für durchlässigere Sekundarschulmodelle, wie beispielsweise das kooperative Modell. In diesem Modell werden die Schülerinnen und Schüler ebenfalls einem Leistungszug zugewiesen, Mathematik und Unterrichtssprache werden aber oft leistungszug-übergreifend in zwei Anforderungsniveaus unterrichtet. Das zweite Beispiel ist das integrierte Modell, in welchem keine Selektion und kein «Labelling» der Jugendlichen erfolgen, sondern in leistungsdurchmischten Klassen unterrichtet wird und auch hier bestimmte Fächer in zwei Anforderungsniveaus angeboten werden. Empirische Studien bestätigen, dass solche durchlässigeren Modelle nicht nur die Chancengleichheit erhöhen, sondern tendenziell mit besseren Leistungen aller Schülerinnen und Schüler einhergehen.

Warum das getrennte Modell dennoch verbreitet ist, zeigt unsere Studie: In Bildungspolitik, -verwaltung und unter Schulleitungen existieren verschiedene Vorstellungen davon, was «gerecht» und «richtig» ist. Diese orientieren sich an Argumenten wie Begabungsförderung, organisatorischer Bewältigung von Heterogenität, Chancengleichheit, oder Konkurrenz zwischen Berufs- und Allgemeinbildung. Diese Vorstellungen wie auch die kantonalen Schulstrukturen sind historisch gewachsen und haben sich in der öffentlichen Meinung sowie in Volksschulgesetzen niedergeschlagen. Wird über «Schule ohne Noten» diskutiert, muss deshalb auch die Frage nach der Organisation und Durchlässigkeit der Sekundarstufe I in jedem Falle mitbedacht werden.


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