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19.2.2021 | Pädagogische Hochschule

Theaterkurse bieten Abwechslung im Corona-Alltag

Theaterpädagogik kann das Bedürfnis nach sozialer Interaktion in Pandemie-Zeiten erfüllen – analog und digital.

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Theaterkurse bringen Abwechslung für die Schülerinnen und Schüler – unabhängig davon, ob sie analog oder digital stattfinden. Symbolbild: Eve-Marie Lagge

Jeden Mittwochnachmittag treffen sich in der Turnhalle Merenschwand sechs Schülerinnen aus den Klassen 7 bis 9 unter der Leitung von Lehrerin Caroline Vollstedt zum Freifach Theater. Dank des grossen Raums und der Einhaltung der Schutzmassnahmen – Abstand halten und Maske tragen etwa – ist der Theaterkurs trotz der Corona-Pandemie weiterhin möglich. «Corona schränkt uns schon ein», sagt Caroline Vollstedt. «Aber wir wollen den Schülerinnen und Schülern den Raum geben, sich theatral mit verschiedenen Themen auseinanderzusetzen.» Und auch wenn die Gruppe kleiner ist als in vergangenen Jahren, die Teilnehmerinnen danken es. «Es ist eine schöne Abwechslung zum Alltag», sagt etwa Alisha und Alja freut sich jede Woche auf den Ort, «an dem diese ganze belastende Problematik nicht existiert, sondern nur unser Ensemble, mit dem wir kreativ sind und uns unsere eigene Realität schaffen können».

Wobei: Ganz abwesend ist Corona nie – nicht nur wegen der Einschränkungen. «Zu Beginn des Schuljahres war für die Schülerinnen klar, dass Corona im Stück nicht thematisiert werden soll», sagt Vollstedt. Es zeigte sich, dass das Thema aber so vorherrschend ist, dass es das Spiel ohnehin beeinflusst. Daraufhin erarbeitete der Kurs Szenen, die in hundert Jahren spielen und den Fokus auf die Zeit nach der Pandemie legen. «Die Schülerinnen haben dabei grosses Mitspracherecht und bringen viele Inputs», so Vollstedt, die das Freifach Theater in Merenschwand seit zehn Jahren leitet. «Sie entwickeln ein Gespür dafür, was auf der Bühne funktioniert und welche Wirkung es hat.»

Mehr Mut, vor Leuten zu sprechen 

Im Freifach Theater könnten sich die Kinder «ohne ständige Beurteilung frei entfalten, Dinge ausprobieren und sich neu entdecken», so Vollstedt. Die Szenen entstehen oft durch freie Improvisation. Da der Kurs klassenübergreifend ist, werden im Theater auch die  etablierten Rollenmuster aus den Klassen aufgebrochen. «Eher schüchterne Schüler übernehmen die Initiative, eher aktive müssen sich auch mal hintenanstellen. Man kann spannende Gruppenprozesse beobachten.» Die Schülerinnen selbst beobachten an sich Veränderungen: Sie seien offener, sprachlich gewandter und trauten sich eher, vor Leuten zu sprechen, sagen die Teilnehmerinnen des diesjährigen Kurses.

Mittlerweile ist bereits klar, dass das diesjährige Stück nicht vor Publikum aufgeführt werden kann. «Klar, das Endprodukt ist wichtig. Die Schülerinnen stecken viel Aufwand hinein. Aber der Entwicklungsprozess gibt ihnen noch so viel mehr», sagt die Kursleiterin. Sie wird von den angedachten Szenen abrücken und nun vermehrt Impro-Spiele durchführen, damit die Schülerinnen auch die Disziplin Theatersport kennen lernen. Bereits letzten Frühling konnte das Freifach-Ensemble sein Stück «Nah dran» aufgrund des Lockdowns nicht vor Publikum aufführen. Die Verantwortlichen entschieden sich letztlich, das Video der Aufführung und Interviewsequenzen als Dokumentarfilm online zu stellen.

Proben im digitalen Raum

Komplett im digitalen Raum arbeitet seit Beginn der Corona-Pandemie Murielle Jenni, Dozentin für Theaterpädagogik und Mitarbeiterin der Beratungsstelle Theaterpädagogik an der PH FHNW. An der Hochschule gab es keinen Präsenzunterricht mehr, und so wurde im letzten Frühling auch in den Theaterpädagogik-Kursen und -Lehrveranstaltungen kurzfristig auf digitalen Fernunterricht umgestellt. Auch mit dem Theaterkurs, den Jenni an einem Gymnasium in Bern leitet, wechselte sie in den digitalen Raum. «Vor Corona gab es überhaupt keine digitalen Theaterproben, es galt zu Beginn, viel zu experimentieren. Aber Experimentierfreude gehört ja ohnehin zum Theater», so Jenni.

Die Proben und die Arbeit mit den Studierenden in gängigen digitalen Tools boten Neues. «Man kann sich etwa aus dem Sichtfeld der Kamera wegbewegen, sich erst einen eigenen Rhythmus suchen und dann wieder vor die Kamera treten», so die Theaterpädagogin. Auch habe sich gezeigt, dass gewisse Elemente wie beispielsweise das chorische Sprechen via Videotelefonie kaum möglich seien. Einiges blieb aber auch gleich: «Durch gemeinsame Rituale etwa wird die digitale Probe zum Gruppenerlebnis.» Und gerade Gruppenerlebnis und soziale Interaktion seien in Zeiten der Pandemie zu einem grösseren Bedürfnis geworden. «Vielen Jugendlichen fehlt durch das Social Distancing viel», so Jenni. Die Theaterproben – ob digital oder in Präsenz – generierten jedoch Gemeinsamkeiten und Interaktionen. Die Aussagen der Merenschwander Schülerinnen, die sich über die Abwechslung im Corona-Alltag freuen, überraschen Murielle Jenni denn auch nicht.

Auch dass sich die Corona-Pandemie bei der Themensuche in Merenschwand nicht umgehen liess, sei nachvollziehbar. «Theater ist ein Verhandlungsraum von aktuellen Themen und Corona ist eine weltweite kollektive Erfahrung, die aktuell wohl immer explizit oder implizit zum Thema wird.» 

Am schwierigsten seien digitale Aufführungen, so Murielle Jenni. «Auch weil das Publikum sich nicht gewöhnt ist, Theater an elektronischen Geräten zu sehen. Dort schaut man normalerweise Netflix, und das lässt sich mit Theater nicht vergleichen.» Dennoch gebe es auch diesbezüglich schon erste vielversprechende Ansätze.

- Marc Fischer -


Digitale Weiterbildung an der PH FHNW

Mit den Erfahrungen der letzten Monate und vielen Gesprächen mit Theaterpädagoginnen und -pädagogen aus dem In- und Ausland hat Murielle Jenni einen digitalen Weiterbildungskurs konzipiert. «Theater digital – das Netz ist auch ein Raum» heisst der Kurs, der sich an Lehrpersonen aller Zyklen richtet. «Der Kurs vermittelt praktisch ohne grosses technisches Vorwissen, wie Raum möglich ist», so Jenni. Er findet an zwei Terminen im April und Mai statt, Interessierte können sich online anmelden.

Weitere Informationen

Theaterpädagogik plus erobert die digitalen Bühnen Theaterpädagogik

Regina Wurster, Leiterin Beratungsstelle, Theaterpädagogik PH FHNW

Theaterpädagogik vermittelt auch Theater: Dabei spielt die Gestaltung eines Verhandlungsraumes, in dem sich die Spielenden, und später auch das Publikum, einem gemeinsamen Erlebnis widmen, eine wichtige Rolle. In diesem Raum lassen sich die Beteiligten irritieren, belustigen, unterhalten, verärgern, herausfordern oder inspirieren. Theater(-spielen) erzeugt mit theatralen Gestaltungsmitteln wie Schauspiel, Raum, Ton und Licht eine Wirkung, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann.

Theaterpädagogisches Handeln in der Schule wiederum rhythmisiert den Unterricht, bietet den Schülerinnen und Schülern eine Plattform für die eigene Selbstwirksamkeit und fördert die theatralen Kompetenzen. Dabei stützen sich alle Prozesse auf eine forschende Arbeitsgrundhaltung, die unter anderem durch Neugierde, Experimentierfreude und Offenheit geprägt ist. Gehandelt wird dabei nach dem Leitsatz: «Der Proberaum ist ein Experimentierfeld (safe place), auf dem alles ausprobiert werden darf, auf dem das Scheitern dazu gehört, ohne Wirkung nach aussen.»

Zur eigenen Weiterentwicklung gezwungen

Die Pandemie hat die Theaterpädagogik – wie auch viele anderen Lebensbereiche – gezwungen, vom analogen Raum (u. a. in der Schule) in den digitalen Raum zu wechseln. Dieser Wechsel war zu Beginn eine grosse Herausforderung und stellt sich aktuell als eine der grössten Innovationen innerhalb der Theaterpädagogik heraus. Denn plötzlich ist alles anders und neu, alles muss erforscht werden: jede Wirkung, jedes Spiel, jede Handlung, jede Probenorganisation und vor allem jede Gesetzmässigkeit von ästhetischen Gestaltungselementen in einem digitalen Raum, der nun gemäss Leitsatz zu einem neuen Experimentierfeld wird.

So entstanden seit dem Frühjahr 2020 an vielen Orten Theaterproduktionen, die explizit für den digitalen Raum inszeniert und umgesetzt werden, um dann als Livestream in die verschiedenen Zuschauerräume zu gelangen.

Die Frage, was digitale Theaterproduktionen wirklich sind oder sein könnten – nein, Theater ist kein Film, kein Podcast, kein Vortrag, kein Tutorial und keine Radiosendung – kann nun erforscht werden. Weitere Prototypen für digitale theaterpädagogische Aufführungen sind am Entstehen und lassen erahnen, welche neuen Gesetzmässigkeiten nun greifen. Digitales Theater bedeutet keine abgefilmten Bühnenaufführungen oder Monologe vor Webcams. Eine Theatergruppe aus Freiburg (DE) schreibt: «Wir glauben, digitales Theater beinhaltet eine neue Form des Erzählens, in der die digitalen Oberflächen aktiv in die Geschichten miteinbezogen werden – statt störendes Beiwerk zu sein.»

Für diese neue Produktionsbedingungen erscheint leicht erkennbar am Horizont die Notwendigkeit des gemeinsamen Hinterfragens der eigenen Theaterverständnisse und die der ästhetischen Umsetzungen. Digitales Theater lässt sich nur mit einem grossen und persönlichen Mitgestalten aller Beteiligten erarbeiten. Und hier wird die anfangs erwähnte, gemeinsame forschende Grundhaltung wieder zentral: Eine Haltung, die das Lernen jedes Einzelnen und jeder Gruppe partizipativ einfordert und das Potenzial der Theaterpädagogik im schulischen Kontext auch im digitalen Raum erkennbar macht.

Digitales Theater – eine neue Form des Erzählens

Diese Entwicklung wird die Theaterpädagogik in der Schule verändern: Denn Digitalisierung meint nicht nur den Einsatz digitaler Techniken in Produktionen, sondern es gilt auch die digitale Bühne, als ein neues theatrales Phänomen zu verstehen und zu erproben. Bei Arbeitstreffen mit Theaterpädagogik-Dozierenden anderer Pädagogischen Hochschulen, werden die Verluste und Gewinne dieser digitalen Theaterarbeiten immer wieder diskutiert. Dabei ist erkennbar, dass nicht jede Umstellung gewinnbringend, das Potenzial jedoch bedeutend grösser ist, als im Frühjahr 2020 absehbar war. So wird sich also auch das theaterpädagogische Berufsbild erweitern dürfen. Theaterpädagogik plus, eben.

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