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Sucht: Medizinisches, psychisches oder soziales Problem?

Martin ist spielsüchtig und verschuldet und wird von einer Psychologin betreut. Anna ist alkoholabhängig und in medizinischer Behandlung. Reicht das, um aus der Suchtspirale rauszukommen? Irene Abderhalden, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, sagt: «Nicht in jedem Fall.»

Mutter mit Kleinkind sitzen am Tisch. Die Mutter ha ein Glas mit Alkohol in der Hand.

Ein Suchtproblem kann wie bei Martin oder Anna medizinisch oder psychologisch behandelt werden. Was aber öfter vergessen geht, ist die soziale Perspektive: Verglichen mit der Gesamtbevölkerung sind abhängige Menschen häufiger arbeitslos, fürsorgeabhängig, verschuldet oder verfügen über eine instabile Wohnsituation. Das heisst, soziale Probleme sind sowohl Ursache als auch Folgen einer Suchterkrankung. Irene Abderhalden, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, plädiert darum für eine Stärkung der Sozialen Arbeit im Suchtbereich. Im Interview erklärt sie, warum sie diesen Standpunkt vertritt.

Warum braucht es Ihrer Meinung nach nicht nur Ärzt*innen oder Psycholog*innen, um Menschen mit einer Suchtproblematik wie Martin und Anna zu betreuen?

Wohl keine chronische Krankheit weist neben medizinischen und psychischen Aspekten auch derart viele soziale Faktoren auf wie der Missbrauch und die Abhängigkeit von Substanzen oder Verhaltensweisen. Unter den sozialen Faktoren leiden dann meist nicht nur die suchterkrankten Personen, sondern das gesamte Umfeld wie zum Beispiel auch Kinder suchtbelasteter Eltern.

Warum wird der sozialen Dimension zu wenig Beachtung geschenkt?

Suchterkrankungen werden gegenwärtig vorwiegend als medizinisch-psychiatrisches und nicht auch als ein soziales Problem verstanden. Neurobiologische Erklärungsmodelle dominieren die Suchtforschung. Das heisst, in der Suchthilfepraxis lässt sich eine Medikalisierung und Medizinalisierung feststellen. Damit bleibt meiner Meinung nach ein grosses Potenzial für eine umfassende Unterstützung und Behandlung suchtkranker Menschen und ihrer Angehörigen ungenutzt.

Porträt von Irene AbderhaldenIrene Abderhalden engagiert sich seit rund 20 Jahren auf kantonaler, nationaler wie auch auf internationaler Ebene in der Suchtprävention und Suchtpolitik. Nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit, Sozialpolitik und Psychologie an der Universität Fribourg und Cambridge (MA, USA) baute sie in Bern ein Nachsorge- und Beschäftigungsprogramm für suchtkranke Menschen auf. Als Co-Geschäftsführerin des internationalen Blauen Kreuzes engagierte sie sich weltweit für die Alkoholprävention. Auf nationaler Ebene entwickelte sie als stellvertretende Leiterin das nationale Alkoholprogramm des Bundesamts für Gesundheit (BAG) mit, bevor sie die Leitung der Präventionsabteilung und anschliessend der Gesamtorganisation von Sucht Schweiz übernahm. Von 2017 bis 2019 baute sie als Dozentin und Fachbereichsverantwortliche bei der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften den neuen Bachelor-Studiengang «Gesundheitsförderung und Prävention» mit auf. Seit Januar dieses Jahres arbeitet Irene Abderhalden als Professorin für «Suchthilfe in der Sozialen Arbeit» im Institut Soziale Arbeit und Gesundheit FHNW.
Irene Abderhalden ist Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten, ein beratendes Organ des Bundesrats, verschiedener Expertenkommissionen im Suchtbereich sowie Stiftungsrätin der Gesundheitsstiftung Radix.

Welche Rolle sollen Sozialarbeitende zum Thema Sucht einnehmen?

Menschen mit Suchterkrankungen können zum Beispiel von Armut oder Arbeitslosigkeit betroffen sein, ein von der Norm abweichendes Verhalten zeigen oder nicht auf eine gute Weise in der Gesellschaft integriert sein. Die Bearbeitung solcher Ursachen und Folgen von Suchtproblemen ist einer der zentralen Zuständigkeitsbereiche der Sozialen Arbeit.

Ebenso sind die Vernetzung und interprofessionelle Kooperation eine Aufgabe der Sozialen Arbeit. Damit auch suchtkranke Menschen mit wenig Ressourcen bestmögliche Unterstützung erhalten, gilt es zwei Dinge zu beachten: Zum einen sollen die eher medizinisch-psychiatrisch ausgerichteten Leistungserbringer und jene aus dem sozialmedizinischen und psychosozialen Bereich enger vernetzt werden, wie es übrigens auch die Strategie Sucht des Bundesamts für Gesundheit empfiehlt. Zum anderen sollen effiziente Kooperationen aufgebaut werden. Diese beiden Aufgaben können Sozialarbeitende übernehmen.

Was braucht es für Rahmenbedingungen oder Massnahmen, damit die Sozialarbeitenden diese Rolle einnehmen können?

Die gegenwärtige Entwicklung hin zu einer Verkleinerung des sozialarbeiterischen Handlungsspielraums und einer Verdrängung sozialarbeiterischer Kompetenzen hat unter anderem auch mit der mangelnden Abrechnung sozialarbeiterischer Leistungen via Krankenversicherungsgesetz (KVG) zu tun. Dies trägt dazu bei, dass die Suchthilfe zunehmend enger an medizinische Strukturen angebunden wird. Nebst der Klärung von Finanzierungsfragen ist es für mich jedoch ebenso zentral, dass Professionsverständnis und Selbstbewusstsein von Sozialarbeitenden im Suchtbereich gestärkt werden.

Welchen Beitrag leistet die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, um dieses Professionsverständnis zu stärken?

Das Institut Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW hat für die nächsten drei Jahre folgende Teilprojekte geplant:

Aufzeigen des Handlungsbedarfs: Im Rahmen einer Publikation von Marcel Krebs et al. (in Erscheinung) wird eine Bestandesaufnahme aus Sicht der Praxis geleistet. Darauf aufbauend sollen bestehende Lücken sowie Good-Practice-Ansätze und Potenziale für die Weiterentwicklung von innovativen Interventionen im Suchtbereich identifiziert werden.

Vernetzung, Sensibilisierung und Schulung von Fachleuten der Sozialen Arbeit im Suchtbereich aus Praxis, Forschung, Aus- und Weiterbildung: Im Rahmen eines Kongresses am 2. Juni 2021 sowie anschliessenden Arbeitsgruppentreffen sollen für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe Standards und Empfehlungen erarbeitet und publiziert werden. Zudem sind neue professionsspezifische Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote für Sozialarbeitende im Suchtbereich in Planung, ebenso die Publikation eines Lehrbuchs.

Welche konkreten Angebote der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW gibt es bereits heute?

Die Weiterbildung an der FHNW bietet das MAS-Programm «Spezialisierung in Suchtfragen» sowie zwei verschiedene CAS-Programme an, «Praxis der Suchtberatung» (nächster Start: 16.3.2022) und «Grundlagen der Suchtarbeit» (nächster Start: 15.3.2021). Diese Weiterbildungen richten sich an diplomierte Fachpersonen aus den Bereichen Sozialpädagogik, Pflege, Rehabilitation und Soziale Arbeit, die Aufgaben im Suchtbereich übernehmen. Zusätzlich zu diesen interdisziplinär ausgerichteten Weiterbildungsangeboten sollen zukünftig sozialarbeitsspezifische Weiterbildungs- und Vernetzungsgefässe geschaffen werden.

Was möchten Sie mit diesen Massnahmen erreichen?

Ziel ist, dass die Soziale Arbeit auf der Grundlage einer Klärung des Professionsprofils sowie einer Weiterentwicklung fachlicher Grundlagen und innovativer Handlungsansätze massgeblich dazu beiträgt, dass Sucht wieder verstärkt auch als soziales Problem verstanden und behandelt wird.

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