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6.3.2019 | Pädagogische Hochschule

«Maschinen können vielleicht übersetzen, aber nur die halbe Wahrheit»

Programme übersetzen uns in Sekunden komplexe Texte, in Zukunft dolmetschen unsere Handys simultan. Eine Frage drängt sich auf: Warum dann noch Fremdsprachen lernen? Ein Interview mit Sprachexperte Giuseppe Manno.

Interview von Michael Hunziker

Elektronische Übersetzungshilfen sind heute so weit entwickelt, dass sie die Fremdsprachenkenntnisse von den meisten Menschen bei weitem überschreiten. Warum sollen wir uns noch die Mühe machen, Vokabeln einer anderen Sprache zu pauken?
Beim Sprachenlernen geht es ja nicht nur um die Fähigkeit, Wörter übersetzen zu können. Eine Fremdsprache in realen Situationen sinnvoll anwenden, ist ein komplexer kommunikativer Akt, der sprachinterne wie lexikalische und syntaktische sowie sprachexterne wie kontextuelle, psychosoziale und kulturelle Aspekte voraussetzt. All dies ist machbar für Menschen, aber schwierig für Maschinen. In dem man andere Sprachen erwirbt und einsetzt, nimmt man eine andere Perspektive ein. Man lernt unterschiedliche Denkweisen kennen, hat lebendigen Einblick in ein anderes Weltverständnis. Maschinen können vielleicht übersetzen, es ist aber nur die halbe Wahrheit.

Warum? Es gibt doch beinahe für jedes Wort ein Äquivalent in einer anderen Sprache.
Eben nicht. Die Polysemie der Wörter zeigt, dass die Sprachen die Bedeutungen und die Welt unterschiedlich aufteilen. Das italienische Wort scala etwa entspricht je nach Kontext den deutschen Wörter Treppe, Leiter, Skala, Massstab. Sprachen passen sich an die Lebenswelt an. Bei den Inuits gibt es beispielsweise über 40 Begriffe für Schnee, während bei uns bloss einer und ein paar Komposita-Begriffe dafür existieren. Das zeigt, dass sich Sprache und Kognition gegenseitig beeinflussen und unsere Realität mitgestalten. Die Sprache ist mit der Gesellschaft, die sie spricht, und ihrer Geschichte verbunden. Eine Übersetzung hilft vielleicht oberflächlich, an die Tiefe der menschlichen Kommunikation mit ihren sozialen und historischen Dimensionen kommt sie aber nicht heran. Das sage ich heute. Vielleicht gibt es irgendwann Maschinen, die das können. Das ist aber Zukunftsmusik. Die Frage stellt sich dann aber, ob wir eine solche Intelligenz überhaupt wollen können. Humanisten wie ich sind natürlich skeptisch gegenüber solchen Szenarien eingestellt.

Was gewinnt jemand, der sich auf eine neue Sprache einlässt?
Sprachenlernen führt einfach gesagt zu einer Horizonterweiterung. Man merkt dabei immer wieder, egal in welchem Alter, dass man nicht im Zentrum der Welt steht und die eigene Sprache nicht naturgegeben ist. Eine bisweilen überraschende bis schmerzhafte, pädagogisch gesehen aber eine sehr wertvolle Erfahrung (lacht). Neben der kognitiven Aktivierung werde ich beim Sprachenlernen auch emotional angesprochen und motiviert. Alles in allem ist Sprachenlernen also nicht nur ein nützliches Mittel zum Zweck der Verständigung, sondern in sich eine wunderbare Bildungsangelegenheit.

Fremdsprachen in der Schule lösen selten Euphorie aus. Wie erklären Sie sich diese Fremdsprachenmüdigkeit?
Das beobachte ich hauptsächlich bei Französisch. Die Sprache hat einen schweren Stand in der Deutschschweiz gegenüber dem Englischen. Ich stelle fest, dass die Sprachregionen auseinanderdriften. Institutionell gesehen möchte man zwar an den vier Landessprachen festhalten und das gegenseitige Verständnis fördern, auf der individuellen Ebene eher nicht – da ist leider wenig Feuer für diese Sprachen. Gleichzeitig zeigen die Volksabstimmungen in der Deutschschweiz, dass die Mehrheit die Landessprachen doch unterstützt. Der Verdruss hängt vielleicht mit der Art und Weise zusammen, wie früher Sprachen unterrichtet wurden. Hier muss unsere Didaktik einen positiven Beitrag leisten, was wir auch mit der neuen Konzeption von Fremdsprachenunterricht und in Lehrerpersonenbildung versuchen: Der Unterricht sollte mit Erfolgserlebnissen verbunden werden, die den Lernenden aufzeigen, wie sie ihre Fremdsprachenkenntnisse sinnvoll einsetzen können. Wenn wir es nicht schaffen, solche Erlebnisse zu ermöglichen, dann haben wir einen schweren Stand.

Und wie können solche Erfolge erzielt werden?
Wir wollen mit authentischem Material arbeiten, um wirkliche Berührungen mit der Sprache zu schaffen. Diesen Ansatz verfolgen ja auch Mille feuilles und Clin d’œil, die neuen Französischlehrmittel die das Passepartout-Projekt hervorgebracht hat. Um die Sprache zu lehren, setzen wir heute auf einen Methodenmix. Wir lösen uns mehr von der Form und legen den Fokus mehr auf die Funktion, also auf die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz sowie auf die Handlungsorientierung. Das heisst aber nicht, dass die Grammatik verschwindet, sie ist einfach kein Selbstzweck mehr: Sie steht im Dienst der Kommunikation. Damit einher geht auch eine gewisse Fehlertoleranz und der Abbau von Hemmungen beim Sprechen.

Welche Auswirkungen hat dieser Ansatz auf die Didaktik?
Wir gehen vom kommunikativen Bedürfnis in der Fremdsprache aus, wie etwas in einem Blog oder eine Email zu schreiben, über das Essen zu reden, jemanden nach dem Weg zum Arzt zu fragen, oder seine Meinung zu vertreten. Davon ausgehend fragen wir uns, welche sprachlichen Mittel dafür erforderlich sind – ein Zugang im Dienste der kommunikativen Handlungsfähigkeit. Früher hat man hauptsächlich formale Fehler korrigiert. Heute wird grosser Wert darauf gelegt, ob die Intention der Sprechenden klar ist, ob der Inhalt angemessen ist; denn kommt die Botschaft an, ist das Gold wert.

Wie beurteilen Sie denn die technischen Hilfsmittel, wie Online-Kurse und digitale Tests?
Die Entwicklung neuer Angebote ist in der Tat rasant. Unsere Studierenden sind da mehr auf dem Laufenden als ich. Ihre Hinweise bringen mich immer wieder zum Staunen. Oft unterstützen solche Angebote die Autonomieförderung und die Binnendifferenzierung. Sie helfen den Lehrpersonen, den Lernprozess in Gang zu setzen. Das Ziel ist ja, dass sich bei den Schülerinnen und Schülern ein metakognitives Bewusstsein und eine Methodenkompetenz entwickelt. Die Schülerinnen und Schüler wissen dann über den eigenen Stand Bescheid und sind motiviert, dranzubleiben.

Zurück zur Zukunftsmusik: Wie beurteilen sie als Linguist das Potential der künstlichen Intelligenz in Bezug auf Sprache?
Computerlinguistik hat bestimmt eine grosse Zukunft. Die Sprache ist formalisierbar, das haben uns die Arbeiten von Noam Chomsky schon ab 1957 und anderen aufgezeigt. Heute überrascht es uns nicht, wenn künstliche Intelligenz mit uns spricht und interagiert. Daraus würde ich aber nicht folgern, dass der Code von Sprache geknackt ist. Die Maschinen folgen einem probabilistischen Ansatz. Deep Learning arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten, die von Algorithmen berechnet werden, wenn es um die Beziehungen von sprachlichen Aussagen geht. Es gibt nach wie vor kein definitives linguistisches Modell, das uns sagt, was Sprache ist und wie sie funktioniert, denn Variable kontext- und sprechsituationsabhängige Bedeutungen von Wörtern und Sätzen können schwer mathematisch adäquat modelliert werden. Das Geheimnis ist nicht gelüftet. Registerunterschiede, Ironie, Anspielungen usw. bleiben Maschinen vorerst verschlossen. Und sollte dies trotzdem in einer fernen Zukunft eintreten, dann frage ich mich, ob autonome Menschen sich damit begnügen können, dass die Kommunikation an ihren Köpfen vorbeiläuft.

Hand aufs Herz, benutzen Sie nie digitale Übersetzungsprogramme?
Nein, mein Motto ist, selbst ist der Mann(o)! Was ich aber zugeben muss, ich kontrolliere manchmal im Internet , wie häufig meine beabsichtigten Formulierungen vorkommen, um meine Texte allenfalls zu optimieren.

7_1_teaser_Manno_480x300.png Prof. Dr. Giuseppe Manno leitet die Professur Didaktik der romanischen Sprachen und ihre Disziplinen an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Er hat zuvor an den Universitäten Zürich, Neuchâtel, Fribourg und Bern Linguistik gelehrt. Zu seinen aktuellen Forschungsthemen gehören: Mehrsprachigkeit, Soziolinguistik und Sprachpolitik. Er hat kürzlich das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt «Schulischer Mehrsprachenerwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I» abgeschlossen.
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