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19.5.2023 | Pädagogische Hochschule

Was taugt Diversitätskompetenz in der Praxis?

Die Verschiedenheit von Schüler*innen ernst zu nehmen, fördert deren Widerstandsfähigkeit. Die Umsetzung dieser wissenschaftlichen Erkenntnis im Unterricht ist allerdings anspruchsvoll.


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Sabrina Lisi hielt das Inputreferat am dritten Abend der Veranstaltungsreihe «Bildung für eine Welt von morgen». Foto: Thomas Röthlin

Schwierige Situationen erleben Jugendliche nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch in der Schule. Neben Traumata durch familiäre Disharmonie, Missbrauch und Gewalt sind ein tiefer Sozialstatus, Migrationsbiografien und geschlechterstereotypen Rollenerwartungen typische Problemstellungen im Schulumfeld. Wie Jugendliche solche Benachteiligungen nachhaltig verarbeiten, sprich Resilienz aufbauen können, damit beschäftigt sich Sabrina Lisi, Co-Leiterin der Professur für Pädagogische Psychologie am Institut Sekundarstufe I und II der PH FHNW. Sie referierte an der dritten von sechs Veranstaltungen der Reihe «Bildung für eine Welt von morgen» in Zusammenarbeit mit dem Bildungsnetzwerk Aargau Ost.

«Um schulspezifische Störungen transformieren zu können, müssen psychologische Bedürfnisse nach Identitätsfindung, Schutz, Anerkennung, Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit oder Freude erfüllt werden, und zwar innerhalb der Schule», sagte die Forscherin. Ein Ansatz zur Resilienzförderung ist Diversitätskompetenz, also die Sensibilität von Lehrpersonen für die Verschiedenheit der Schüler*innen. Diese Anforderung stellt auch der Lehrplan 21, in dem sinngemäss steht, der Heterogenität sei im Sinn der Chancengleichheit und in Form von individuellen Lernwegen Rechnung zu tragen. Über Vielfalt nachdenken und reden, Rollenspiele durchführen und Expert*innen für verschiedene Themen einladen sind Möglichkeiten, um an Identitäten, Anerkennung und Zugehörigkeit zu arbeiten.

Einen genaueren Blick warf Sabrina Lisi auf Lehrmittel. Verschiedene Studien in Europa belegen, dass zum Beispiel Frauen in MINT-Schulbüchern unterrepräsentiert sind, People of Color – wenn überhaupt – stereotyp dargestellt werden oder die Heterosexualität zur unhinterfragten Norm erhoben wird. Lisi zeigte aber auch Positivbeispiele wie Bilderbücher über Body Positivity und LGBTIQ*. Für mehr Diversitätskompetenz hat sie eigens ein Padlet zusammenstellt. Am Pädagogischen Zentrum Basel-Stadt wird sie im September den Weiterbildungskurs Diversität in Schulbüchern?! durchführen.

Interessante Podiumsdiskussion

In der anschliessenden Podiumsdiskussion erhielt Sabrina Lisi Support von Noé Etoundi. Der Philosophiestudent strebt ein Lehrerstudium an und hat sein Schwarz- und damit Anders-Sein in den verschiedenen Schulstufen unterschiedlich erlebt. «Es kommt darauf an, wie es thematisiert wird», sagte Etoundi. Im Klassenzimmer als «Sinnbild» einer Minderheit herhalten zu müssen, sei keine gute Art; gerade Primarschulkinder könnten mit dieser «isolierten» Rolle wohl nicht adäquat umgehen.

Connie Fauver, Schulleiterin in Obersiggenthal, stellte die Praxistauglichkeit der Diversitätskompetenz infrage. Sie zu fordern, sei zwar richtig, sie umzusetzen, aber auch anstrengend. Die aktuelle Marktlage mache es umso schwieriger, den dünn gesäten Lehrpersonen zusätzliche Anforderungen aufzubürden. «Es ist eine Gratwanderung zwischen der Erfüllung der Lehrplans 21 und dem Risiko von Burn-outs.» Sabrina Lisi brachte Verständnis dafür auf, zumal als Aufgabe der Schule in erster Linie die Selektion und nicht die Förderung des Wohlbefindens der Schüler*innen angesehen werde. Keine Noten zu setzen, sei tatsächlich indiskutabel, bestätigte Connie Fauver, aber immerhin seien in Obersiggenthal Projekte wie «Keine Hausaufgaben» und «Besondere Förderung» am Laufen.

Dass Diversitätssensibilität sowohl als Repräsentation (in Lehrmitteln) als auch als Haltung (von Lehrpersonen) anzustreben ist, darin waren sich die Podiumsteilnehmenden einig. Von Moderatorin Katia Röthlin auf den Fall Stäfa angesprochen – der Gender-Tag an der dortigen Schule wurde nach einem Shitstorm abgesagt –, bezeichnete es Noé Etoundi als «moralischen Imperativ», gegen einen solchen Backlash vorzugehen. «Wir können nicht wollen, dass es unseren Kindern und Jugendlichen schlecht geht», bekräftigte auch Sabrina Lisi.

Die Schule als Motor des Fortschritts, dieser Anspruch wurde im Publikum zum Schluss kontrovers diskutiert. Als (konkretes) Beispiel diente der Wunsch einer Kopftuch tragenden Oberstufenschülerin nach einer bestimmten Lehrstelle, die ihr aufgrund dieses äusseren Attributs allerdings verwehrt bleibt. Soll diese Schülerin von der Lehrperson darin bestärkt werden, das Kopftuch nicht abzulegen, um zur gesellschaftlichen Akzeptanz dieses Symbols beizutragen, auch wenn sie dadurch ihren Traumberuf an den Nagel hängen muss? Oder trägt es nicht vielmehr zur Resilienz der Schülerin bei, wenn sie sich einer Regel unterordnen muss und dafür einen Erfolg bei der Lehrstellensuche erlebt? Wissenschaftliche Erkenntnisse, zeigte dieses Fallbeispiel, kollidieren manchmal mit der beruflichen Realität von Lehrpersonen – auch wenn diese durchaus diversitätssensibel sind.

- Thomas Röthlin - 

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